Wie haben Sie die Situation des Corona-Lockdowns erlebt? Welche Gedanken darin gewägt, welche Erkenntnisse gewonnen? Vielleicht solche, wie sie die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir zu Papier brachte?
«Eindruck unendlicher Musse. Die Zeit hat ihren Wert verloren... Ich fühle mich entspannt und schwebend, ich warte, ich weiss nicht worauf. Es ist, als warte alle Welt... Ich bin trübsinnig, ich habe zu wenig geschlafen, ich bin müde... Ich lese das alles in den Zeitungen, und es berührt mich kaum. Ich bin narkotisiert... In dieser Existenz, die monoton bis zur Kargheit ist, gewinnt die kleinste Abweichung grosse Bedeutung.»
Leid und Linderung
In Zeiten grösster existenzieller Unsicherheit liegt der lindernde Wert von Literatur und Philosophie darin, sich im je eigenen Leiden begleitet zu wissen. Zu den eindrücklichsten Zeugnissen einer Situation vollständigen lebensweltlichen Stillstands zählen dabei Simone de Beauvoirs Kriegstagebücher der Jahre 1939/1940.
Auf die Mobilmachung und Kriegserklärung der Franzosen gegen Hitler im September 1939 folgte die Phase des sogenannten «Sitzkrieges» (frz.: Drôle de guerre). Für mehr als neun Monate sollten sich damals zwei Millionenheere einsatzbereit gegenüberstehen: ohne jede Kampfhandlung, ohne einen einzigen Schuss, ohne klaren Angriffszeitpunkt.
Ein Zeitraum höchster Anspannung und Unsicherheit, alltäglicher Leere und damit auch Unwirklichkeit.
Der Sinn der Sinnlosigkeit
Getrennt von dem an die Front entsandten Jean-Paul Sartre verbringt Beauvoir diese Zeit isoliert in einem Pariser Hotelzimmer und grübelt über den möglichen Sinn ihres Lebens. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen, widmet sie sich zudem dem literarischen Schreiben: «Ich reagiere nicht mehr auf all diese Prophezeiungen. Ich arbeitete an meinem Roman... ich lebe in einer Art Stumpfsinn. Keine Zukunft hat noch Realität.»
Beauvoir tritt der neuen Situation also mit der paradox anmutenden Haltung einer stoischen Revolte entgegen. Sie besteht zum einen darin, sich allein auf das zu konzentrieren, was scheinbar ganz in eigener Hand liegt.
Zum anderen aber auch darin, wider alle erfahrene Sinnlosigkeit und Zukunftsverschlossenheit neuen Sinn in die eigene Existenz zu leiten, sich gar selbst neu zu schöpfen.
«Ich fühle», schreibt sie, «dass ich etwas Bestimmtes werde. Bald bin ich zweiunddreissig, ich fühle mich als fertige Frau, ich möchte nur wissen, welche? ... Und ganz allgemein, was verlange ich heute vom Leben, von meinem Denken, wo stehe ich in der Welt?»
Die Stimme einer Strömung
In den unwirklichen Monaten des «Pariser Lockdowns» von 1939/1940 findet Beauvoir als Denkerin mit anderen Worten erstmals zu einer wirklich eigenen Stimme. Eben jener Stimme, die sie zur Mitbegründerin einer philosophischen Strömung macht, die fünf Jahre später unter dem Label «Existenzialismus» die gesamte westliche Welt erobern sollte.
Tief verunsichert, ja verängstigt, gelingt es Beauvoir, die fundamentale Störung ihres Weltverhältnisses in Musse zu umzudeuten, die empfundene Leere als schöpferischen Auftrag, die erfahrene Unwirklichkeit als Ausgangspunkt neuer Selbstverwirklichung.
Das ist sicher kein Patentrezept für jedermann – oder jedefrau. Aber doch ein bleibender Wink in Hinblick auf das, was Menschen selbst in finsterster Zeit als Schöpfern möglich bleibt. Für sich selbst. Für uns alle.