Emmanuel Cafferty war am 3. Juni 2020 auf dem Heimweg und liess entspannt den Arm aus seinem Pick-Up Truck hängen. An einer Ampel bemerkte er, wie ein anderer Fahrer ihn beschimpfte und fotografierte.
Einen Tag später wurde Cafferty von seinem Arbeitgeber, den Elektrizitätswerken von San Diego, gefeuert. Vorwurf: Er sei ein Rassist. Das Foto war auf Twitter gelandet. Caffertys Vorgesetzte deuteten es so, als würde er Daumen und Zeigefinger zum OK-Zeichen formen.
Auch wenn diese Geste weltweit als Zeichen für «alles klar» verstanden wird, benutzen es inzwischen einige Rechtsradikale als Symbol für «White Power», was Cafferty weder wusste noch beabsichtigte.
Besonders skurril ist, dass er zu Dreivierteln lateinamerikanische Wurzeln hat und damit als «Nicht-Weisser» zum Feindbild der Neonazis gehört.
Was uns Missverständnisse lehren
Das Beispiel verrät viel über die Tücken menschlicher Kommunikation. Ständig müssen wir die Worte, Gesten und Symbole anderer Menschen interpretieren.
Im Alltag geht das normalerweise so automatisch und anstrengungslos, dass wir gar nicht merken, wie viele Fähigkeiten dabei zum Einsatz kommen: Sprachwissen, soziale Intelligenz und «Weltwissen».
Gerade an Missverständnissen wie im Fall Cafferty zeigt sich, warum Sprachverstehen philosophisch so herausfordernd ist.
Der amerikanische Philosoph Donald Davidson hat dazu eine Theorie entwickelt, die er «radikale Interpretation» nennt. Im Prinzip müssten wir alle so behandeln, als würden jeder eine eigene Fremdsprache sprechen, selbst wenn wir sie oder ihn mühelos verstehen.
Nur die besten Absichten
Was jemand meint, hängt demnach von zwei Zuschreibungen ab, die wir als Interpreten vornehmen: Von der Bedeutung seiner Worte (und Gesten) auf der einen Seite und von seinen Überzeugungen und Absichten auf der anderen Seite. Von mehr nicht.
Sagt eine Person «Hier sind drei tolle Fallbeil-Spiele», haben wir also zwei Möglichkeiten. Entweder wir unterstellen ihr eine makabre Vorliebe für Guillotinen. Oder wir gehen davon aus, dass sie sich versprochen hat und «Fallbeispiele» meinte.
Dabei kommt das Prinzip des Wohlwollens («principle of charity») zum Einsatz: Wir nehmen an, dass der Sprecher rational ist und die meisten unserer Auffassungen teilt.
Bevor wir ihm absurde Überzeugungen oder böse Absichten unterstellen, nehmen wir erst einmal an, dass er mit seinen Worten etwas anderes meinte: zum Beispiel sich vertan hat oder einen Witz machen wollte.
Das Prinzip des Wohlwollens
Davidson sagt, dass Wesen überhaupt nur dann eine Sprache sprechen können, wenn sie weitgehend rational sind. Man kann sein Prinzip aber auch als Kommunikationshilfe lesen: Wenn Du nicht ganz sicher bist, interpretiere dein Gegenüber erst einmal wohlwollend!
Genau das tun wir immer weniger in den aktuellen aufgeheizten Debatten, wie der Fall Cafferty zeigt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Dynamik auf sozialen Medien wie Twitter und Facebook, vor allem wenn ideologische Gegner aufeinandertreffen.
Radikal, aber richtig
Im neuen Empörungsdiskurs ist das Gespür für Humor, Satire und Ironie verkümmert. Bei unklaren Äusserungen gehen die wenigsten von einem Versprecher oder von Unwissen aus, sondern unterstellen Vorsatz. Nicht die wörtliche Aussage zählt für sich genommen, sondern inzwischen hören viele immer mehr Andeutungen und Subtext heraus.
So ist eine Atmosphäre des Verdachts entstanden, in der alle wie auf Eierschalen spazieren, weil sie übereifrige Fehlinterpretationen fürchten. Die Lehre aus Davidsons Theorie lautet: Statt jedem ständig Radikalität zu unterstellen, sollten wir unser Gegenüber lieber radikal interpretieren.
Alles andere ist nicht OK.