Kürzlich war ich im Zoo. Da war dieser Orang-Utan. Er hing gemütlich an den Gitterstäben, die Beine gespreizt. Ein Wasserstrahl, der eigentlich seinen Käfig bewässern sollte, massierte seine Genitalien. Er sah glücklich aus, der Affe.
Auch wir Zoobesucher hatten unseren Spass. Die öffentliche Selbstbefriedigung des Orang-Utans weckte aber auch gemischte Gefühle. Manche blickten zu Boden, andere lächelten verlegen, einige wurden rot. War es Scham? Oder gar Fremdschämen für den Affen?
Ich erinnere mich, wie peinlich das war, damals mit 14, als meine Mutter unerwartet ins Zimmer trat. Ich auf dem Bett, die Hand in der Hose. Beide drehten sich ab. Ich wollte im Boden versinken, mich in Luft auflösen.
Weder Tiere noch Götter kennen dieses Gefühl der Scham, meinte der Anthropologe Max Scheler. Und bereits für Charles Darwin war klar: Der Mensch ist das Tier, das sich schämen kann. Aber warum können wir Menschen das? Und wie sähe unser Leben aus, wenn wir kein Schamgefühl hätten?
Wir sind nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt
Wir Menschen können uns nur schämen, weil wir uns selbst von aussen betrachten können, durch die Augen anderer. Es ist der Blick der anderen, so Jean-Paul Sartre, der uns bewusst macht, dass wir nicht nur Subjekte sind, sondern immer auch Objekte, Körperwesen, die den Urteilen anderer schonungslos ausgesetzt sind.
Bereits in jungen Jahren beginnen wir, diese fremden Urteile und Erwartungen zu verinnerlichen: aus Fremdzwängen werden Selbstzwänge. Sprich: Wir schämen uns nicht nur vor anderen, sondern auch vor uns selbst.
Rülpser und Schweissgeruch
Scham ist die gefühlte Entblössung dessen, was leider zu mir gehört und was ich gerne vor anderen verbergen möchte: mein Körper, mein Alter, meine Triebe, meine Schwächen, meine Familie. Wofür wir uns schämen, ist kulturell und individuell verschieden.
Der Körper und seine Triebe aber sind besonders oft schambesetzt. Ein Furz, ein Rülpser, Schweissgeruch, eine Erektion: All das verrät, dass wir Tiere sind und manchmal die Kontrolle verlieren. Aber warum sollten wir uns dessen schämen? War das Paradies nicht der Ort, wo es keine Scham gab?
Bin ich nicht gut genug?
Angesichts fehlender Manieren und knapper Bekleidung in der Öffentlichkeit wird heute gerne ein «Schamverlust» oder gar eine «Tyrannei der Intimität» diagnostiziert. Die Welt sei zum Dschungelcamp geworden. Das Paradies aber ist weit weg.
Immer mehr Menschen leiden unter einer narzisstischen Scham. Sie haben das Gefühl: Ich bin nicht gut genug. Die Ursachen hierfür sind offensichtlich: Leistungsdenken, Selbstoptimierung, Selbstdarstellung. Was dagegen hilft? Weniger sein wollen. Weniger darstellen wollen. Mehr Orang-Utan.
Wahre Freiheit bedeute, sich nicht mehr vor sich selber zu schämen, meinte Friedrich Nietzsche. Selbst dann, wenn alle anderen sich für mich fremdschämen. Auch in dieser Hinsicht kann uns der Orang-Utan ein Vorbild sein.