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Im Schatten der Scheinwerfer: Machtmissbrauch in der Musikbranche
Aus Kontext vom 02.07.2024. Bild: colourbox
abspielen. Laufzeit 28 Minuten 30 Sekunden.

Rammstein war kein Einzelfall «Row Zero»: Sexualisierte Gewalt, Drugs and Rock ’n’ Roll

Ein neues Buch zeigt, wie verbreitet Übergriffe und sexualisierte Gewalt in der deutschen Musikbranche sind – und welche Strukturen dahinterstecken.

Im Sommer 2023 rollt eine Welle von Vorwürfen durch die sozialen Medien. Im Fokus: Der Rammstein-Sänger Till Lindemann. Zahlreiche Frauen berichten, sexuelle Grenzverletzungen im Umfeld von Rammstein-Konzerten erlebt zu haben. Die Debatte über die Vorwürfe polarisiert nicht nur Musik-Fans.

Der Fall Lindemann in aller Kürze

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Ende Mai 2023 berichtete die Nordirin Shelby Linn auf Social Media von ihren Erlebnissen im Umfeld eines Rammstein-Konzerts in Vilnius: Frontsänger Till Lindemann habe versucht, Sex mit ihr zu haben. Ihr «Nein» habe ihn verärgert, er habe es aber akzeptiert. An den genauen Verlauf des Abends erinnert sie sich nicht: Sie vermutet, bei einer exklusiven Party vor der Show unter Drogen gesetzt worden zu sein.

Auf ihre Social-Media-Posts hin melden sich weitere Frauen zu Wort, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wollen. Mehrere von ihnen werfen Till Lindemann sexuelle Übergriffigkeit vor. Dieser bestreitet die Vorwürfe. Die Staatsanwaltschaft Berlin, die im Sommer 2023 die Ermittlungen aufgenommen hatte, stellte das Verfahren gegen Lindemann ein: Ihm seien keine Sexualstraftaten nachzuweisen – auch, weil keine der Frauen bereit war, auszusagen.

Die Anschuldigungen gegen Lindemann sind nur die Spitze des Eisbergs: Für ihr Buch «Row Zero. Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie» haben die Investigativ-Journalisten mit 200 Menschen aus der Branche gesprochen: von Künstlerinnen über Groupies hin zu Mitarbeitenden von Plattenfirmen und Agenturen. Die saubere Recherche und umfangreichen Gespräche machen deutlich: Erfahrungen mit Machtmissbrauch und Übergriffen jeglicher Art sind in der Branche Teil des Alltags. Und es sind vor allem Erfahrungen von Frauen.   

Die Recherchearbeit zum Buch

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Gemeinsam mit ihrem Team haben die Investigativ-Journalisten Daniel Drepper und Lena Kampf letzten Sommer zu den Vorwürfen gegen Till Lindemann recherchiert. Sie haben aufgedeckt, wie offenbar systematisch junge weibliche Fans für Afterpartys und wohl auch Sex mit Till Lindemann bzw. seiner Band Rammstein rekrutiert wurden.

Ausgehend von dieser Recherche haben sie die Musikindustrie insgesamt unter die Lupe genommen: Welche Strukturen ermöglichen Gewalt und Machtmissbrauch? Warum herrschte so lange Schweigen? Und was passiert, wenn immer mehr Menschen aus der Branche das Schweigen brechen?

Drepper und Kampf haben mit 200 Menschen aus der Branche gesprochen – von Fans über Künstlerinnen und Veranstalter hin zu Mitarbeitenden von Plattenfirmen und Agenturen. Auch die Personen, denen konkret problematisches Verhalten vorgeworfen wurde, haben sie kontaktiert, allerdings meist erfolglos.

Ihr Buch «Row Zero. Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie» fasst die Erkenntnisse zusammen.

Ein fruchtbarer Boden für Übergriffe

Das Buch rollt auf, wie sich über Jahrzehnte hinweg in der Musikindustrie Strukturen gebildet haben, die solche Vorfälle nicht nur ermöglichen, sondern sogar zu begünstigen scheinen. So war die Welt der Plattenfirmen, Veranstalter und Agenturen lange männerdominiert. Die wenigen Frauen, die in den 80er und 90er Jahren dort arbeiteten, stiessen schnell an eine gläserne Decke. Und sie berichten von regelmässigen Übergriffen durch Vorgesetzte, Kollegen und Künstler. Diese Strukturen würden sie noch immer spüren, erzählen Mitarbeiterinnen heute. 

Ausserdem konzentriere sich die Macht an den Spitzen weniger Unternehmen. Insider beschreiben die deutsche Musikindustrie als «ein Dorf»: Jeder kenne jeden. Wer die Stimme gegen Missstände oder gar konkrete Personen erhebt, gefährde die eigene Karriere. Welcher Künstler, welche Managerin beruflich weiterkommt, hänge wiederum auch von subjektiven Kriterien ab, sagt Depper: «Es kommt stark darauf an: Wer kennt wen? Mit wem kann ich gut? Mit wem habe ich mal drei Bier an der Bar getrunken?». Dass der Bar-Abend karriereentscheidend sein kann, ist ein Symbol für eine Branche, in der die Grenzen verschwimmen: zwischen Arbeit und Freizeit, beruflichen Verhandlungen und privaten Partys.

Mythos: Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll

Hinzu kommt die Rolle der Musikerinnen und Musiker: «Es gibt wahrscheinlich keine Branche, in der Künstler so idolisiert werden», so Drepper. Diese Macht scheinen Künstler immer wieder zu missbrauchen: gegenüber Managerinnen und Agentinnen – und gegenüber vornehmlich jungen, weiblichen Fans und Groupies.

Für manche Frauen ist Sex mit Stars zwar pure Freiheit und Selbstbestimmung. Aber viele, so zeigt das Buch, haben auch schlechte Erfahrungen gemacht: Sie nehmen den Sex als nicht einvernehmlich wahr, ob währenddessen oder im Nachhinein.

Ein wenig Optimismus  

Das Buch zeigt auch: Es tut sich etwas in der Musikindustrie. Denn der Druck wächst: von aussen, weil unsere Gesellschaft sensibler geworden ist für Machtmissbrauch und Sexismus. Aber auch von innen: Mitarbeiterinnen von Plattenfirmen fordern Konsequenzen für Künstler, die bei ihnen unter Vertrag stehen und denen problematisches Verhalten vorgeworfen wird.

Es gibt viele Baustellen, aber Daniel Drepper wagt Optimismus: Seit dem Rammstein-Skandal seien «mehr Räume offen, um über diese Dinge zu sprechen: Weil Leute zuhören, die vorher nicht zugehört haben.»

Buchhinweis

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Lena Krampf, Daniel Drepper: «Row Zero: Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie». Eichborn Verlag, 2024.

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