Wer beim Sorgentelefon «Dargebotene Hand» anruft, ist meist einsam, hat Beziehungsprobleme oder leidet unter finanziellem Druck. 600 Mal im Monat geht es aber um Suizid.
Im Interview sagt Klaus Rütschi, Geschäftsführer von «Dargebotene Hand Zentralschweiz», was Gefährdeten am meisten hilft und warum sich seine Arbeit verändert hat.
SRF: Das Sorgentelefon hat eine lange Tradition. Ist Ihre Arbeit noch die gleiche wie zu Beginn Ihrer Amtszeit?
Klaus Rütschi: Nein. Überrascht und erschüttert hat mich die Anzahl Jugendlicher oder sogar Kinder, die immer häufiger anrufen. Corona war der Trigger. Es kam wie eine Sturzflut über uns. Früher waren wir ein Telefon für über 65-Jährige. Heute sind die Babyboomer viel resilienter, ziehen mit dem Wohnwagen in den Süden. Aber die Jugendlichen sehen häufig keine Perspektiven, das nimmt mich mit. Sie sollten Träume haben, eine lange Liste an Plänen!
Was fehlt ihnen?
Das reale Gegenüber. Sie sind so öffentlich und gleichzeitig so verletzlich. Kürzlich habe ich gehört, dass eine Influencerin im Livestream mit ihrem Freund Schluss gemacht hat. Wir beide unterhalten uns gerade über Zoom und können mit dieser Distanz umgehen. Aber Heranreifende brauchen direkte Zugewandtheit, sie lernen durch persönliche Begegnungen. Das wird ihnen nicht mehr vorgelebt.
Am wichtigsten ist es, dass wir die Menschen ernst nehmen. Das passiert im Leben häufig zu wenig.
Nicht selten geht es bei Anrufen um Suizid, Tendenz steigend. Wie geht man damit um?
Zum Teil sind es Angehörige, die sich bei uns melden. Aber meistens geht es um Suizidandrohungen. Wir hören oft «Ich will nicht mehr», «Ich kann nicht mehr». Wir stellen dann sehr konkrete Fragen: «Gibt es einen klaren Plan? Haben Sie daran gedacht, wer Sie findet?» Das ist entscheidend, um einzuschätzen, wie real die Gefahr ist. Eine Suizidandrohung ist wie ein Tunnel. Der kann, bei depressiven Menschen etwa, sehr kurz sein. Aber wir haben auch bis zu vierstündige Telefonate. Wir legen nicht auf, bis die Leute wieder aus dem Tunnel sind und es einen Lichtblick gibt.
Am wichtigsten ist es, dass wir die Menschen ernst nehmen. Das passiert im Leben häufig zu wenig. Sagt ein Kollege beispielsweise, dass er keinen Sinn mehr sieht, reagieren viele mit «Kopf hoch» und «das wird schon wieder». Damit helfen Sie ihm nicht, im Gegenteil. Es bestärkt ihn darin, dass ihn niemand sieht oder Hilfe anbietet.
Wie soll man denn reagieren?
Es ist verständlich, dass man überfordert ist. Genau das darf man sagen: «Mir fehlen die Worte. Das ist ja schrecklich.» Man soll fragen, was nicht geht. Ob er oder sie sich wirklich umbringen will. Man darf das thematisieren, damit die Menschen auch merken, was sie damit auslösen. Ehrliches Interesse hilft.
Wann ist Ihre Kompetenz überschritten, wann schicken Sie jemanden vorbei?
Wir greifen nicht ein. Beide Seiten bleiben anonym. Das ist der Grund, warum die Menschen hier ihr Herz ausschütten können. Wir müssen das anders hinkriegen. Und ja, das lastet auf uns.
All die Schicksale, die auf die Mitarbeitenden einprasseln: Wer will und kann das auf sich nehmen?
Unsere Freiwilligen sind intrinsisch motivierte, herzensgute Menschen, die sich weiterentwickeln wollen. Sie sind unser höchstes Gut. Viele haben selbst schon einiges erlebt, bringen einen Rucksack mit. Aber es gibt ein strenges Casting, bei welchem ein grosser Teil wieder «rausfällt». Es braucht eine Grundresilienz und solides psychologisches Wissen, das die Mitarbeitenden lernen. Aber sie bleiben Freiwillige und keine Therapeuten.
Es braucht manchmal sehr wenig, um Menschen aus ihrer Verzweiflung zu holen.
Der Druck muss trotzdem riesig sein.
Ja. Aber in der neunmonatigen Ausbildung lernen sie gut damit umzugehen. Sie werden auch psychologisch begleitet, alles wird gespiegelt und kritische Gespräche können jederzeit an uns abgegeben werden. Aber nach einigen Jahren zehrt die Arbeit häufig schon an einem, es ist wichtig, das zu spüren. Was sie leisten, ist enorm. Eigentlich sollten sie so viel verdienen wie ein Banker.
Wenn man keine Zeit für zwei, drei kleine Interaktionen pro Tag hat, sollte man seine Prioritäten hinterfragen.
Apropos Banker: Wie kam es eigentlich zu Ihrem Karrierewandel: vom Banker zum Seelsorger bei der Dargebotenen Hand?
Ich kann mich gut erinnern, wie ich am Flughafen London sass, nachdem ich meinen Rückflug verpasst hatte – wegen einer langen Sitzung, die mir absolut nichts gebracht hat. Ich sass da und dachte plötzlich: «Was mache ich hier eigentlich? Und wofür?» Wenige Tage später kam die Anfrage der Dargebotenen Hand. Ich war sofort interessiert, aber einfach so wechseln konnte ich nicht.
Warum nicht?
Ich führte ein ganz anderes Leben: ein Haus, drei Autos, ein Boot auf dem Zugersee. Ich konnte mir nicht vorstellen, plötzlich mit so viel weniger Geld leben zu können. Doch dann ging es doch. Wir fanden eine Lösung, und ich habe den Entscheid, Hypotheken gegen Menschen einzutauschen, keinen Augenblick bereut.
Wie hat die Arbeit Sie verändert?
Ich bin viel offener geworden und schenke Menschen mehr Zeit. Man muss Zeit schenken, das ist, was man tun kann. Menschen lechzen nach sozialer Interaktion. Ich habe gelernt, wie wenig es manchmal braucht, um Menschen aus ihrer Verzweiflung zu holen. Bleiben Sie stehen und sprechen Sie mit der Dame auf dieser Parkbank! Erzählen Sie irgendwas – wie lustig die Tauben laufen, dass es morgen kühler wird. Es geht einem danach selbst auch wesentlich besser.
Sie sprechen von Basics.
Genau. Es sind simple menschliche Dinge: zuhören, zugewandt sein. Früher hatte ich keine Zeit, weil ich das Motorrad, die Autos, das Boot in den Service bringen musste. Aber was hat es mir gebracht! Ein Boot kann Sie nicht trösten. Es sind die Menschen, die man pflegen muss. Wenn man keine Zeit für zwei, drei kleine Interaktionen pro Tag hat, sollte man seine Prioritäten hinterfragen.
Das Gespräch führte Patricia Banzer.