Angehörige trifft es wie ein Schlag, wenn sie erfahren: Eine ihnen nahe stehende Person hat sich das Leben genommen. Der Philosoph Karl Jaspers sprach von einem «existentiellen Schaudern», das einen überkommt, wenn ein Mensch diese ungeheure Grenze vom Leben zum Tod aktiv überschreitet.
Hinzu kommt oft eine tiefe Fremdheitserfahrung – die grosse Frage nach dem Warum. Manchmal plagen uns auch Schuldgefühle: Wie hätte ich das verhindern können? Selten auch Wut: Wie konnte die Person uns das nur antun? Und bei sehr vielen Menschen ist da dieses Grundgefühl: Das sollte nicht sein. So weit darf es nicht kommen.
Und dennoch: In der Schweiz begehen jedes Jahr etwa tausend Menschen Suizid. Noch mehr Menschen wählen den assistierten Suizid mit einer Sterbehilfsorganisation. Weltweit sterben mehr Menschen an Suizid als an Kriegen oder an Gewalt – all die gescheiterten Suizidversuche sind da nicht mit eingerechnet. Und die Statistiken zeigen auch: Vorwiegend sind es Männer, die sich das Leben nehmen, auch wenn Frauen vergleichsweise häufiger einen assistierten Suizid wählen, wie die Zahlen in der Schweiz zeigen. Und die Suizidrate nimmt mit zunehmendem Alter zu.
Die Theologin Dorothee Arnold-Krüger ist Expertin für moralische Fragen rund um den Tod. Sie vermutet den Grund für den Männerüberhang darin, dass viele Männer schlechter mit Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit umgehen und weniger Begleit- und Unterstützungsangebote wahrnehmen. Zudem hätten Männer in der Regel weniger soziale Beziehungen, in denen sie sich öffnen können, meint die Expertin.
Suizidrate sinkt – nur nicht bei Jugendlichen
Ganz generell gilt: In der Schweiz sinkt die Zahl der Suizide seit Jahren kontinuierlich. Aber es steigt die Anzahl der Menschen, die durch assistierten Suizid aus dem Leben scheiden. Und, was Sorgen bereitet: Die Suizidalität bei Jugendlichen hat zugenommen. Die Kinder- und Jugendstiftung Pro Juventute schätzt, dass jede elfte jugendliche Person bereits versucht hat, sich das Leben zu nehmen.
Expertinnen und Akteure fordern darum eine bessere Prävention. Dazu gehören handfeste Massnahmen wie Zäune an Brücken und Bahngleisen, ein beschränkter Zugang zu Schusswaffen und Medikamenten, aber auch niederschwellige Gesprächsangebote wie die «Dargebotene Hand» oder die Kampagne «Reden kann retten». Die Zahl der Menschen, die solche Angebote nutzen, steigt seit einiger Zeit – auch im Nachgang zu Corona.
Niederschwellige Angebote und schnelle Hilfe
Hilfreich sind auch sogenannte Kriseninterventionszentren (KIZ) wie etwa das KIZ in Winterthur. Dieses liegt mitten im Wohngebiet der Stadt und lädt Menschen ein, bei Krisen ohne Voranmeldung hereinzukommen. Das «Walk-in»-Angebot sei zentral für einen niederschwelligen Zugang, meint Jens Eckert, leitender Arzt am KIZ in Winterthur.
Hilfe gesucht hat kürzlich auch eine junge Frau, die ihren Job verloren hat. Sie kannte das Kriseninterventionszentrum bereits, weil sie als Jugendliche einmal da war. Für Sie ist es ein Ort, an dem sie Unterstützung findet – und Zeit für sich selbst.
Daniel Göring war damals, bei seinem Suizidversuch, nicht mehr in der Lage, ein Hilfsangebot in Anspruch zu nehmen. Eines Abends stand er allein in der Küche und sah keinen Ausweg mehr. Er wollte sich das Leben nehmen.
Der berufliche Druck wurde zu gross. Ihm fehlte die Kraft, sich jemandem anzuvertrauen und im Büro, vor seinen Kolleginnen und Kollegen, Schwäche zu zeigen. Hinzu kam eine Depression. Daniel Görings Versuch, sich das Leben zu nehmen, ist gescheitert. Heute ist er unendlich dankbar dafür.
Die Ambivalenz der Freiheit
Den meisten Überlebenden geht es ähnlich wie Göring. Sie sind später froh, dass der Suizidversuch misslungen ist – dass ihnen jemand geholfen hat. Denn oft ist die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, nicht wirklich frei: Der Suizidversuch geschieht aus einem Affekt heraus, aus einer inneren Notsituation oder aus einer Krankheit, einer psychischen Störung, etwa einer akuten Depression oder einer Psychose.
Solche Suizidwünsche sind also weder wohlüberlegt noch stabil. Für den Suizid-Experten, Philosophen und Mediziner Mathias Bormuth ist es genau diese «Ambivalenz der Freiheit», die im Zentrum des Nachdenkens über den Suizid steht. Und diese Ambivalenz zieht sich auch wie ein roter Faden durch die europäische Geistesgeschichte des Suizids.
Die Philosophie und die Frage des «Selbstmords»
Die griechische Antike war gespalten in der Frage nach dem Suizid. Denker wie Platon und später auch der Kirchenvater Augustinus lehnten den sogenannten «Selbstmord» ab. Philosophen wie Seneca dagegen befürworteten den «Freitod» und lobten die Selbstbestimmung am Ende des Lebens.
Auch später, in der Aufklärung, gab es beide Lager. Immanuel Kant etwa sah in jedem Suizid ein «Verbrechen». Die Selbsttötung widerspreche dem kategorischen Tötungsverbot und verletze die Pflichten, die jeder Mensch gegenüber sich selbst habe, schreibt Kant.
Der schottische Aufklärer David Hume dagegen sah im Suizid einen legitimen, letzten Ausweg, ähnlich wie später Friedrich Nietzsche, der eine Umwertung des Suizids forderte, als er in seinem Werk «Also sprach Zarathustra» schrieb: «Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.» Nietzsche wendet sich damit auch gegen die christlich-religiöse Deutung des Suizids als Sünde.
Religion und Suizid: verboten und verfemt
Aus christlicher Sicht galt über lange Zeit: Das Leben wird uns geschenkt, und zwar von Gott. Dieses heilige Geschenk darf nicht zerstört werden. Nur Gott darf das Leben beenden. Als Konsequenz dieses Gedankens galt der Suizid lange als Sünde, als Auflehnung gegen Gott.
Die Kirchen verweigerten den «Selbstmördern» über Jahrhunderte sogar eine kirchliche Bestattung. Heute ist das anders, aber es gibt noch immer die Idee der Heiligkeit des Lebens, der Unverfügbarkeit des Todes. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass gläubige Menschen statistisch weniger häufig Suizid begehen.
Ein kurzer Blick in andere Weltreligionen zeigt: Es gibt viel Überschneidung. Im Islam ist die Selbsttötung nicht nur verboten, sie gilt sogar als schwere Sünde – im Unterschied zum Märtyrertum, das anders beurteilt wird.
Im Judentum ist die Selbsttötung nur akzeptiert, wenn sie einen Mord verhindert, einen Inzest oder Götzendienst. Und auch der Buddhismus und der Hinduismus blickt auf eine lange Tradition des Suizidverbots zurück. In einzelnen Fällen ist lediglich das Sterbefasten erlaubt, das einige religiöse Asketen vorgelebt haben.
Assistierter Suizid: kein individueller Entscheid
Wie wollen wir sterben? Diese existentielle Frage stellt sich seit einigen Jahren nochmal neu – gerade ich der Schweiz. Neben Sterbehospizen und Palliativstationen gibt auch die Möglichkeit, mithilfe von Sterbehilfsorganisationen wie Exit aus dem Leben zu gehen.
Der assistierte Suizid darf jedoch erst nach einer sorgfältigen Prüfung des Sterbewunsches durch die zuständige Freitodbegleitung sowie die Ärztin oder den Arzt erfolgen. Diese prüfen, ob der Sterbewunsch einer Person wirklich selbstbestimmt, stabil und wohlüberlegt ist.
Bei psychischen Leiden und sofern die betroffene Person urteilsfähig ist, müssen zudem zwei unabhängige Gutachten erfolgen. In Zweifelsfällen braucht man sogar die Zustimmung einer Ethikkommission.
Jeder Entscheid über Leben und Tod betrifft immer auch Angehörige. Und manchmal sind diese nicht einverstanden mit dem Entscheid einer ihr nahen Person, sich das Leben zu nehmen. Genau das erlebte Claire Müller mit 92 Jahren. Sie spürte, dass die Kräfte nachliessen, der Alltag beschwerlicher wurde, der Lebenswille nachliess.
Ihre Tochter Doris Bamert war damals nicht einverstanden mit dem Entscheid ihrer Mutter. Sie fand, das Leben dürfe nicht rein altersbedingt beendet werden. Die Mutter solle nicht nur an sich selbst denken, sondern auch an ihre Angehörigen. Claire Müller entgegnet darauf: «Nein, ICH muss gehen. ICH muss den Entscheid treffen.»
Vermutlich haben beide recht, denn echte Freiheit ist immer auch verantwortete Freiheit. Wir Menschen sind soziale Wesen und als solche ist unsere Freiheit immer auch eine eingebundene, abhängige Freiheit.