In der Sprache steckt Kraft, und die kann verletzend sein. Ich kannte das vom Albanischen, als ich keine vier Jahre alt war und meine Eltern die Entscheidung trafen, die Heimat zu verlassen. «Atdhe» war so ein Wort, «die Heimat». «Gurbet» war das andere, «das Ausland».
Unser Auto war schwer beladen, als wir uns auf in dieses Ausland machten, in diese neue Heimat. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die Verantwortung, den zurückgebliebenen Familienmitgliedern ein besseres Leben zu ermöglichen, wogen schwer.
Ein Land, zwei Welten
Ein neues Zuhause, Sicherheit und Wünsche füllten auch meinen Rucksack, als ich das erste Mal in die Schule lief. Ich hatte versucht, mit dem Fernseher Deutsch zu lernen, so gut es ging.
Doch die Sprache, die ich nun vernahm, war mir fremder als jene der Zeichentrickfiguren. Fremder als jene, die ich in den Nachrichten über die Kriege im Balkan hörte, die meine Eltern jeden Tag verängstigt mitverfolgten.
Zwischen Stuhl und Schulbank
Ich lernte diese neue Sprache nur langsam. Denn sie hörte sich für meine Kinderohren so fremd an. Also sprach ich, wie ich sie vernahm: Hochdeutsch-Albano-Mixisch.
Das beinhaltete meine Worte, meine Füsse, meine Hände. Meine verdrehten Augen und Verzweiflung, wenn die Lehrerin mir versuchte zu erklären, dass ich nicht einfach in die Religionsstunde hineinsitzen dürfe.
Dass ich an Weihnachten nicht am Unterricht teilnehmen müsse. Dass ich endlich andere Schuhe für das Turnen und Wandern bräuchte. Dass sie schon wieder meine Eltern informieren und ich einmal mehr nachsitzen müsse.
Ich sollte mich doch einfach «integrieren». Ein Wort, dass mich noch lange jagen würde.
Anders als die anderen
Ich verstand die Lehrerin damals kaum. Doch ich verstand, dass ich als einzige etwas falsch zu machen schien und nichts aus meinen Fehlern lernte. Ich verstand, dass ich anders war als die restlichen Kinder.
Nach der Schule gingen die Mädchen ins «Meitliriegi», die Jungs zum Fussball. Ich ging mit meinen Brüdern nach Hause, zurück in unsere Welt.
Es war eine andere, nicht so heile Welt, wie ich sie bei Patrizia und Laura zu Hause sah. Ihre Mamas weinten nicht, wenn sie Fernsehen schauten. Meistens hatten sie keinen Fernseher und ich sah sie gemeinsam Lesen lernen.
Das konnte ich damals schon lange – Papa hatte mir schon im Kindergarten mittels der Zeitung «Rilindje» lesen und schreiben beigebracht. Mein erstes geschriebenes Wort war «Shqipëria» – Albanien. Doch das verstand meine Lehrerin dann nicht.
König Kauderwelsch
Und dann zogen wir um. Die Schule am neuen Ort war bei uns gleich um die Ecke und ich sah am Sonntag vor dem ersten Schultag einige Kinder im Hof spielen. Ich ging zu ihnen hin und hörte sie sprechen: Kauderwelsch. Aber ein ganz anderes Kauderwelsch.
Wie ich heisse, fragten sie. Albanerin, erkannten sie, als ich meinen Namen nannte. Und dann kamen weitere Kinder dazu, die so sprachen wie ich. Und andere, die aus Italien stammten. Aus Nordmazedonien, Spanien, Kroatien und der Türkei. Alle waren wie ich, und ich war endlich wie die anderen.
Vorurteile vergessen lassen
Es war das erste Mal, das ich in der Schweiz das Gefühl hatte, angekommen zu sein. In Pratteln waren sie versammelt, die Menschen aus der ganzen Welt und fanden hier zusammen.
Sie lernten gemeinsam, sie wuchsen gemeinsam. Als ich älter wurde, belächelten mich die Menschen in der Stadt, wenn ich erzählte, wo ich wohnte. «In diesem Ghetto», fragten sie.
Ich kannte mich mittlerweile mit Vorurteilen aus und war stolz, dass wir ein Zuhause hatten, dem es «schnurz» war, wie es genannt wurde. Pratteln machte was es wollte, Vorurteile hin oder her.
Genauso wie seine Bürgerinnen und Bürger: Wir liessen uns nicht von den Grenzen stoppen, die uns vorgeschoben wurden. Wir machten unser eigenes Ding.
«Frau Islam»
Das neue Zuhause Pratteln passte zu dem Klischee, dass viele Boulevardmedien zu dieser Zeit von Kosovo-Albanern zeichneten. So sehr man sich einer Diskussion enthalten wollte, die Gesellschaft um uns herum erwartete Antworten, Stellungnahmen.
«Frau Islam», rief mich ein Lehrer während meiner Ausbildung zur Kauffrau und erzählte von IV- oder Sozialhilfeempfängern, die in den Anekdoten seines Wirtschaftsunterrichts stets Albaner und Türken waren.
Ich nahm es hin, um nicht das Klischee der aufbrausenden Albanerin zu bestätigen. Immerhin hatte ich eine Lehre in diesem Bereich gefunden – die Schülerinnen und Schüler mit meinem Hintergrund konnte man in der Berufsmatura meines Jahrgangs an einer Hand abzählen.
Adieu, Albanisch!
Die nicht zu enden drohenden Diskussionen um unsere Herkunft führten bei vielen dazu, dass sie sich noch stärker in ihren Patriotismus betteten.
Man wollte uns hier nicht, und die Sprache der Boulevardpresse hatte sich auch unter den Mitmenschen verbreitet. Andere spürten die Ausgrenzung und liessen die Liebe zur alten Heimat los.
Kappte man die Wurzeln zu der eigenen Identität, entstand oft eine Leere, die nur sehr schwer zu füllen war. Es dauerte Jahre, bis ich das verstand. Die Sprache begann ich zu vergessen – ich brauchte sie in der Schweiz nicht.
Bei uns zuhause wurde nicht viel über das Leben in der Schweiz gesprochen: wir versuchten alle, unseren Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, beantragten den Schweizer Pass, bauten ein Haus in Pratteln.
Es war die unausgesprochene Entscheidung, dass wir hier Wurzeln schlugen. Pratteln – die Schweiz – war nun unsere Heimat.
Zurück zu den Wurzeln
Den Menschen im Kosovo erzählten wir kaum etwas von den Herausforderungen. Armut, Krieg und fehlende Perspektiven hatten in den letzten Jahrzehnten ihr Leben geprägt. Sie hatten die weitaus grössere Bürde zu tragen gehabt.
Für sie war die Schweiz das Land, das ihren Familien ein Zuhause bot und gleichzeitig der Ort, der ihnen ebendiese jedes Jahr wieder entriss. Rote Fahnen mit dem weissen Kreuz zieren noch heute die eine oder andere Strasse, in denen Kosovaren ein paar Sätze Deutsch sprechen können. Sie lernten sie jeden Sommer, wenn wir zurückreisten.
Das Albanisch meiner Ahnen
Und in einem Sommer kam sie: die Erkenntnis, wie wenig ich meine Heimat kannte. Die Berge und die Täler, die Meere und die Menschen, die Legenden und Geschichten. Auch die schöne Sprache meiner Ahnen, welche Eroberungen und Besetzungen überlebt hatte.
Ich begann Bücher auf Albanisch zu lesen und zu verstehen, entdeckte auf neuen Reisen Land und Leute. Entdeckte den Teil von mir, den ich in der Ferne, im «Gurbet», verloren hatte.
Die Erzählungen sind in bald zwei Romanen verewigt und stehen in der Schweizer Nationalbibliothek – wie jedes Buch einer Schweizer Autorin. Doch wer hätte gedacht, dass mein Name jemals unter dieser Kategorie in einer Bücherei zu finden sein würde?
Der Weg der Weisheiten
Weil albanische Literatur in den letzten Jahrhunderten nicht bewahrt werden konnte, gaben die Menschen im Kosovo ihre Erzählungen von Generation zu Generation mündlich weiter.
Mein Grossvater war es, der mir die Geschichten voller Weisheiten vererbte. Als er mein erstes Buch in den Händen hielt, konnte er kaum glauben, dass seine Worte nun auf Deutsch gelesen werden konnten.
Einige Monate nach der Veröffentlichung des Romans erhielt ich Nachrichten von Lesern, die zum ersten Mal nach Kosovo und Albanien gereist waren – mit meinem Buch im Schlepptau.
Wieso erst jetzt, fragte ich und erhielt oft die Antwort, dass das Land so weit entfernt gewirkt habe. Nicht nur für Schweizer – auch für die albanische Diaspora selbst.
Doch nun gebe es dieses Werk auf Deutsch, man könne die Geschichten, die Kultur, die Sprache nachlesen und nachempfinden. Am Ende war es die deutsche Sprache, die den Menschen diese Welt im Herzen des Balkan eröffnete.
Die Geschichten meines Grossvaters
Eine Journalistin fragte mich letztens, weshalb mich der Begriff «Integration» so treffe. Ich versuchte es ihr anhand einer albanischen Anekdote zu erklären.
«In einem Dorf waren die Menschen zusammengekommen, um dem Weisesten unter ihnen Fragen zum Leben zu stellen. Im Dorf lebten Katholiken und Moslems gemeinsam und einer der Bewohner fragte den Weisen, welches die beste Religion sei. Der Weise hatte geantwortet: Es gibt nur zwei Religionen: die Religion des Menschen und die Religion des Unmenschen. Welche davon die bessere ist, könnt ihr euch denken.»
Diese Geschichte war eine der letzten, die ich von meinem Grossvater erhielt. Er erklärte mir damals, dass keine Kultur besser als die andere sei. Wichtig sei, dass eine Kultur am Leben gehalten würde und mit ihr all das, was diese ausmacht.
Immer wieder «Integration»
Deswegen begleitete das Wort «Integration» eine solche Schwere: Es implizierte mir das Ablegen meiner Kultur und das erwartete «Zerfliessen» in der neuen.
Nicht das Wort trug eine Schuld, sondern das, was wir Menschen daraus gestaltet hatten. Wahrscheinlich gab es auch dafür irgendwo eine weise Anekdote. Vielleicht würde ich diese Lehre irgendwann finden. Irgendwo zwischen der alten Heimat und der neuen.