Die russischen Theaterschaffenden Jewgenija Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk sitzen seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft – nun wurden sie zu je sechs Jahre Haft verurteilt.
Es ist das erste Mal, dass in Russland Künstlerinnen für ein preisgekröntes Theaterstück ins Gefängnis kommen. Der Vorwurf könnte kaum lauter sein: «Rechtfertigung des Terrorismus».
Das Theaterstück «Finist – heller Falke» erzählt, auf der Grundlage von dokumentarischem Material, von der Liaison zwischen Russinnen und IS-Kämpfern in Syrien. Es fragt danach, was die Frauen antreibt, alles für ihr Liebesideal zu opfern und ihre eigene Kultur aufzugeben.
Patriotische Künstler wie der Putin-Vertraute und Regisseur Nikita Michalkow legten diese Hingabe als «russophob» aus: russische Männer würden als unattraktiv dargestellt werden. Auch die viel beachteten Antikriegsgedichte Shenja Berkowitschs stiessen im Lager um Michalkow auf wenig Sympathie.
Kafkaesker Prozess
Die Causa hatte der Schauspieler Wladimir Karpuk angestossen – ein Schüler Michalkows. Auf der besetzten Krim gelang es Karpuk 2016, sich in einem Selfie mit Wladimir Putin abzubilden. Seither meint er, der russische Präsident sei sein Freund. Die Anzeige gegen das Theaterstück «Finist – heller Falke» begründete er mit «grosser Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, gegenüber Russland».
Der Religionswissenschaftler Roman Siljantew wiederum steuerte das Prozess-Gutachten bei. Silantjew hat die Pseudowissenschaft «Destruktologie» begründet – ein Fach, das für sich in Anspruch nimmt, «destruktive» soziale Phänomene aufzuspüren. Man könnte auch von Religionswächtern sprechen.
Das Urteil setzt den Schlusspunkt für die noch verbliebene Freiheit der Kunst.
Zudem gab es noch einen Zeugen, aber der wollte anonym bleiben. Aufgrund dieser komödiantischen Ausgangslage setzten viele in der Theaterszene ihre Hoffnungen bis zuletzt auf den Richter. Wer, wenn nicht er, müsse doch merken, was gespielt wird.
Signal der Gleichschaltung
Der Schock in der Theaterwelt über das Urteil ist gross. Der Regisseur Kirill Serebrennikow spricht von einer «blanken Vergeltungsmassnahme».
Serebrennikow selbst war 2017 wegen angeblicher Veruntreuung von Staatsgeldern in die Schusslinie geraten, bekam Hausarrest, sein Theater wurde geschlossen.
Aber es gab viel internationalen Druck, in dessen Folge er schliesslich freikam. Serebrennikow und viele andere unterstellen der Justiz jetzt Rache dafür. Die Regisseurin vom Moskauer «Teatr.doc» spricht von einem ultimativen «Signal der Einschüchterung».
«Wo sind die anderen?»
«In der Praxis setzt das Urteil den Schlusspunkt für die noch verbliebene Freiheit der Kunst.» Überrascht zeigte sie sich über das Ausmass der Angst in der russischen Kunstszene.
Jewgenija Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk wurden vor einem Militärgericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit schuldig gesprochen. Aber auch vor dem Gericht hatten sich nur knapp 30 Unterstützer versammelt. «Zwei Regisseure waren da, wo sind die anderen? Keine Schriftsteller waren da. Ich weiss, dass es viel Angst vor dem System gibt, aber genau darauf zielt das Urteil ab.»