Fast ein Jahr dauert der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine schon. Und seit fast einem Jahr verlassen Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern ihre Heimat. Einige von ihnen sind in der Schweiz gelandet und geblieben.
Wie geht es ihnen, Monate nach der Ankunft? Wir haben zwei Ukrainerinnen und eine Familie in der Schweiz besucht, um mit ihnen über ihr neues Leben und ihre weiteren Pläne zu sprechen.
Pavel Ignatev und Katia Purtseladze: Eine Musikerfamilie sucht die innere Ruhe
In Kiew hatten sie einen normalen Alltag: Katia Purtseladze, Pavel Ignatev und ihre beiden Kinder. Katia Purtseladze, auch bekannt unter ihrem Künstlernamen Katiko Purtseladze, ist als Sängerin und Schauspielerin schon in verschiedenen ukrainischen Filmproduktionen aufgetreten.
Ihr Mann, Pavel Ignatev, ist Pianist und Komponist. Ursprünglich klassisch geschult hat er sich dem Jazz gewidmet und trat regelmässig auf – manchmal auch zusammen mit seiner Frau. Und auch ihre Kinder spielen gerne mit, wenn zuhause Musik gemacht wird.
Es fühlt sich an, als wären wir mitten in einem Sturm. Da ist es schwierig, einen Schritt zurückzumachen.
Als der Krieg ausbrach, entschied sich das Musiker-Pärchen, mit ihren Kindern aus der Ukraine zu flüchten, erzählt Katia Purtseladze: «Zuerst wollten wir in Kiew bleiben und dort unsere musikalische Arbeit weiterführen. Aber wir haben uns schliesslich entschieden, dass wir unsere Kinder in Sicherheit bringen wollten – auch wegen den psychologischen Auswirkungen des Krieges.»
Im April kamen sie mithilfe von freiwilligen Helfern in die Schweiz und liessen sich auf Empfehlung eines Bekannten in Zürich nieder – dort gebe es eine lebendige Musikszene. Durch die Non-Profit-Organisation «Artists at Risk», die gefährdete Künstlerinnen und Künstler unterstützt, wurden Katia Purtseladze und Pavel Ignatev mit dem Schauspielhaus Zürich in Verbindung gesetzt, das ihnen auch eine Wohnung zur Verfügung stellte.
Seither versuchen sie, ihre musikalische Arbeit weiterzuführen und haben schon viele Benefizkonzerte gespielt. Am ukrainischen Unabhängigkeitstag im August sang Katia Purtseladze an einer Versammlung auf den Zürcher Strassen, und auch im Schauspielhaus sind die beiden zusammen mit anderen ukrainischen Musikerinnen und Musikern mehrmals aufgetreten.
«Wir sind zwar nicht mehr in der Ukraine, aber wir folgen täglich den Nachrichten und das kann sehr schmerzvoll sein», erzählt Katia Purtseladze. In der jetzigen Situation ihrer Musik nachzugehen, sei nicht einfach. «Es fühlt sich an, als wären wir mitten in einem Sturm. Da ist es schwierig, einen Schritt zurückzumachen.»
Pavel Ignatev geht es ähnlich. Seit seiner Ankunft in der Schweiz habe er noch nichts Neues komponiert. «Ich spiele jeden Tag Musik und wir treten in Konzerten auf. Aber fürs Komponieren muss ich zuerst wieder eine innere Ruhe finden.»
Kurzfristige Pläne haben sie durchaus: Im Januar sollen die beiden Kinder die Schule in der Schweiz anfangen. Und nach ihrem Konzert im Schauspielhaus, das im Dezember stattfand, planen Katia Purtseladze und Pavel Ignatev weitere Projekte.
Dabei stossen sie immer wieder auf Hindernisse. Als Zugezogene fehlt ihnen das Netzwerk der Schweizer Musikszene. Und auch finanziell sei die Lage prekär: «Wir haben zwar viele Konzerte gespielt, aber die meisten davon waren Benefizkonzerte. Längere Engagements haben wir noch keine», so Pavel Ignatev.
Trotz der schwierigen Situation ist das Musiker-Pärchen gut gelaunt und zuversichtlich. Sie seien sehr dankbar, in der Schweiz zu sein und hier ihrer Arbeit nachgehen zu können, sagt Katia Purtseladze. Denn: «Das Wichtigste ist die Musik. Durch sie können wir unsere Geschichte erzählen.» (Florence Baeriswyl)
Olga Kravtsova: Fast eine Familie in Riehen
Olga Kravtsova steht im Gemeindehaus der Markuskirche in Basel in der Küche, als die Initiatorin des Treffpunkts sie anspricht. Ob sie ein Interview geben würde? Olga nickt vorsichtig, zweifelt noch, ob ihr Deutsch gut genug sei.
In einem ruhigen Raum antwortet Olga langsam und überlegt auf die Fragen. Sie sei 35 und komme ursprünglich aus Luhansk in der Ostukraine. Doch da herrsche nun schon seit acht Jahren Krieg. Deshalb war sie das erste Mal aus ihrer Heimatstadt nach Kiew geflohen und arbeitete dort als Buchhalterin.
In der Ukraine hatte ich viele Pläne. Doch alles kam anders.
Dann die zweite Flucht – und seit März dieses Jahres lebt sie nun in der Schweiz. Der Anfang sei schwer gewesen. Doch nach zwei, drei Monaten sei es immer mehr «easy and easy and easy» geworden. Zunächst lebte sie bei einer Gastfamilie. Die zeigte ihr einen Artikel in der lokalen Zeitung: In Riehen gebe es einen Treffpunkt für Ukrainerinnen und Ukrainer – ob sie dort hingehen wolle?
Olga wollte. Und lernte andere Geflüchtete kennen, aber auch Schweizerinnen und Schweizer. Bei den Treffen gibt es Deutschunterricht, Getränke, Snacks, verschiedene Aktivitäten und vor allem: Begegnungen. Hier habe sie Freundschaften geknüpft, sagt sie vorsichtig. Und Menschen aus der Kirche hätten ihr geholfen, eine Wohnung zu finden. Nun wohnt sie in einer Einzimmerwohnung.
Immer am Dienstag und Donnerstag treffen sich etwa 20 bis 40 Ukrainerinnen, überwiegend Frauen, und einige Schweizerinnen und Schweizer. Inzwischen steht ein Verein dahinter, der Ukrainische Club Riehen, ein Projekt der Evangelisch-Reformierten Kirche Basel-Stadt.
Die Initiative und das Engagement sind ehrenamtlich. Claudia Winkler hat das Projekt ins Leben gerufen. Sie strahlt Entschlossenheit aus, vernetzt Leute, organisiert, steht vor der ganzen Gruppe, stimmt Lieder an, motiviert.
«Stille Nacht» und «O Tannenbaum» singen die vielen Frauen und wenige Männer heute laut. Sie wirken dabei fröhlich. Claudia Winkler sagt die Hausaufgaben an: Die Strophen von «Stille Nacht» auswendig lernen und übersetzen.
Olga Kravtsova wirkt verhaltener als manch andere hier, ruhiger. Ob es ihr Temperament ist? Oder wurde sie durch das Erlebte zurückhaltender? Um das herauszufinden, ist die Begegnung zu kurz. Den Krieg erwähnt sie kaum. Ausser, dass ihr Bruder Soldat ist und das Land nicht verlassen kann. Und dass ihre Eltern in Luhansk bleiben wollen, wo sie ihr Haus haben.
Es fällt ihr schwer, Pläne für das neue Jahr zu machen. «In der Ukraine hatte ich viele Pläne», sagt sie. «Doch alles kam anders. Deshalb ist es schwierig, die Zukunft zu planen.» Vielleicht möchte sie umschulen, von der Buchhalterin zur Krankenschwester. Oder in der Küche arbeiten. Einen Beruf lernen, den sie in jedem Land ausüben könne, auch wenn sie die Sprache nicht perfekt beherrsche.
Wer weiss, wohin das Leben sie führen wird. Solange sie in Basel ist, will sie weiterhin zu diesen Treffen kommen. Hier packt sie mit an und hilft, wo sie kann. Und warum? «Die Atmosphäre ist schön, und dieser Ort ist wie eine kleine Familie für mich geworden», antwortet Olga Kravtsova. (Dorothee Adrian)
Julia Schkurinskaja: Hauptsache eine Arbeit
«Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann erzähle ihm von deinen Plänen», lautet ein bekanntes Sprichwort. Es passt zur Situation von Julia Schkurinskaja. Als sie – fest verankert in ihren zu grossen Wanderschuhen – auf Appenzeller Boden steht. Die Holzspaltmaschine dröhnt ohrenbetäubend durch den Morgen.
Das Thermometer zeigt zehn Grad minus und Julia Schkurinskaja friert bei ihrer Lieblingsarbeit. Und trotzdem: Die laute Maschine, die Arbeit mit den Händen, der Geruch von Holz, all das sei für sie wie eine Therapie, sagt sie. Dass sie an Neujahr 2023 in Appenzell im Asylbeschäftigungsprogramm Holz spalten würde, dass sie ein Flüchtling sein würde – wie hätte sie sich so etwas ausdenken können.
Jetzt ist Krieg. Und im Krieg denkst du nicht, du überlebst.
Ein Jahr zuvor war sie eine gefragte ukrainische Kunstschaffende. Sie arbeitete als Bühnenbildnerin für Film und Fernsehen und trat als Artistin im Theater und im Zirkus auf. Zusammen mit ihrem Mann Dima, einem Tänzer, hatte sie tausend Projekte. «Ich war eine Karrierefrau. Die Arbeit war meine grosse Liebe und die Nummer 1 in meinem Leben», erzählt sie.
Sie hatte gerade die Arbeit an einer Serie abgeschlossen, wachte in Kiew auf und alle sagten: «Es ist Krieg!» Noch heute komme es ihr vor wie in einem Traum. «Ich kann mich an fast nichts erinnern. Nur, dass ich mit meinen Eltern und der Familie meines Bruders zu unserem Haus aufs Land fuhr. Mein Mann wurde sofort in die Armee eingezogen.»
Julia Schkurinskaja hat in Kiew die Schule für Zirkus- und Bühnenkunst abgeschlossen. Danach tourte sie mit einer Artistengruppe durch die Welt. Gastiert hat sie auch einmal in Zürich. Daran erinnerte sie sich, als ihr Mann sie aufforderte, die Ukraine zu verlassen.
Das Landhaus der Familie von Julia Schkurinskaja liegt in der Nähe von Butscha. Jenem Vorort von Kiew, an dem russische Truppen mutmassliche Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begingen.
«Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen in Butscha und Irpin. Viele sind leider nicht mehr am Leben.» Julia Schkurinskaja dreht sich weg. Sie brauche eine Pause. Schon zu Beginn des Gespräches, sagte sie, dass sie sich vorgenommen habe, nicht zu weinen.
Wenn ich an meine Arbeit von früher denke, kommen mir die Tränen.
«Nach diesen Ereignissen bin ich weggefahren. Ich hatte auf der Reise keine Angst. Ich dachte immerzu an unsere Gastspiele und sagte mir, dass ich da ja auch oft gereist bin.» Mit dem Bus und dem Zug fuhr sie nach Zürich, weil es eine sichere Stadt sei.
Als sie ankam, schickte man sie allein weiter nach Appenzell, wo sie ein Zimmer in einer Asylunterkunft erhielt. Durch die beschlagenen doppelten Scheiben sieht man die Appenzellerbahn in Nahaufnahme rauf und runterfahren.
«Als die Ereignisse sich überschlugen, habe ich nur Nachrichten geschaut. Ich hatte Angst, um meine Familie. Ich habe nichts verstanden, ich war wie eine Maschine.» Was sie aber verstand: «In der Schweiz muss man arbeiten, weil alles sehr teuer ist.»
Und Julia Schkurinskaja war es gewohnt zu arbeiten. Unter den Händen, die am Tag Holz aufschichten und spalten, entstehen zarte Bleistift-Wesen mit grossen Augen und schlaksigen Armen und Beinen. «Kukla», lacht sie. Puppen. Manchmal setzt sich Julia Schkurinskaja auf ihre durchgelegene Matratze und zeichnet. Die Zeichnungen werden von ihren Freunden in Kiew zu Puppen gebaut und elektronisch animiert. Kleine Projekte für Tiktok.
«Klar, wenn ich an meine Arbeit von früher denke, kommen mir die Tränen. Aber jetzt ist das alles nicht mehr wichtig. Jetzt ist Krieg. Und im Krieg denkst du nicht, du überlebst.» Sie sei froh, dass sie eine kleine Arbeit habe und mit dem Geld ihre Familie unterstützen könne. «Meine Eltern haben nun Holz und einen Generator.»
Julia Schkurinskaja ist ein offener Mensch. Doch wenn wir über ihre Zukunft sprechen, ist es, als würde sie einen Vorhang ziehen. Pläne habe sie keine, sagt sie karg. Dann kommen ihr doch die Tränen. Sie hoffe nur, dass sie an Neujahr ihren Mann erreichen könne und dass sie das Jahr gemeinsam beginnen könnten.
Doch Julia Schkurinskajas Mann ist an der Front. Selbst dieser bescheidene Neujahrs-Plan ist deshalb ein emotionales Wagnis. Denn die Enttäuschung wäre wieder schmerzvoll. (Sara Leuthold)