Die Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine ist gross: Rund 80’000 Betten in gut 30’000 Gastfamilien stehen zur Verfügung. Inzwischen erreichen zwar immer weniger Geflüchtete die Schweiz. Aber schon bald sind die drei Monate vergangen, die den Geflüchteten in einer Gastfamilie garantiert waren. Es stellt sich die Frage – wie weiter?
Die ersten Geflüchteten nach der russischen Invasion in der Ukraine Ende Februar sind Anfang März in der Schweiz angekommen. Viele wurden unkompliziert von Gastfamilien aufgenommen. Doch inzwischen beobachtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) bei vielen Gastfamilien erste Ermüdungserscheinungen, sagt Direktorin Miriam Behrens: Es sei «nicht ohne», jemanden dauernd bei sich in der Wohnung zu haben. «Wir stellen fest, dass es teilweise Erstaunen darüber gibt, dass es kulturelle Unterschiede gibt.» Bei den ukrainischen Flüchtlingen sei man offenbar davon ausgegangen, dass es eine ähnliche Kultur sei. «Aber es gibt eben doch Unterschiede», so Behrens. «Und wenn Kinder dabei sind, kann das schon zu Reibungen führen.»
Kommt nach der Hilfsbereitschaft die Enttäuschung?
Auch bei den Kantonen besteht eine Unsicherheit hinsichtlich des Durchhaltevermögens der Gastfamilien. Gaby Szöllösy, Generalsekretärin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) sagte Anfang Juni an einer Medienkonferenz des Bundes: «Auf die Sommerferien hin könnte sich die Situation schlagartig ändern. Einige Kantone haben deshalb systematisch Gastfamilien befragt, ob sie ihr Engagement verlängern möchten – damit sie abschätzen können, was auf sie zukommt.»
Wenn Geflüchtete bei den Gastfamilien nicht mehr willkommen sein sollten, ist für das Staatssekretariat für Migration (SEM) der Fall klar, sagte David Keller, Leiter Krisenstab SEM: «Es gibt keine Rückübernahme vom Bund und keine Neuverteilung.» Der jeweilige Kanton müsse das Problem lösen, wenn Leute aus der Privatunterbringung zurückkämen.
Noch haben Kantone freie Kapazitäten
Die Kantone haben laut der Sozialdirektorenkonferenz 9000 freie Betten in Kollektivunterkünften. Es gibt bisher keine kompletten Zahlen, wie viele Gastfamilien zum Sommer hin aufhören wollen und wie viele Geflüchtete dann wieder eine neue Unterbringung brauchen.
Der Kanton Bern beispielsweise macht sich jedenfalls keine Sorgen, wie Gundekar Giebel, Kommunikationschef der Sozialdirektion, erklärt: Es sei ein kleiner Prozentsatz, und man könne wirklich gut unterstützen. Denn: «Aufgrund der Zuweisungen vom SEM haben wir zurzeit eher weniger Leute, die wir unterbringen müssen und somit eigentlich im Kanton immer über 700 Plätze frei.»
Die Flüchtlingshilfe stellt jedoch fest, dass sich die Situation der Gastfamilien nicht überall gleich darstellt. «Bei Kantonen, die ihre Gastfamilien gut begleiten und Ansprechpartner sind, kommen die Ermüdungserscheinungen weniger schnell», so SFH-Direktorin Miriam Behrens. «Wir merken aber auch Unterschiede, weil am Anfang viele Geflüchtete in die Städte gegangen sind. Dort ist die Situation bestimmt auch eine grosse Herausforderung.»
Aktuell leben gut 55.000 Geflüchtete aus der Ukraine in der Schweiz, rund die Hälfte von ihnen in Gastfamilien. Jedenfalls so lange, wie die Gastfreundschaft hält.