Rund 40'000 Private in der Schweiz möchten ukrainische Kriegsflüchtlinge bei sich aufnehmen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe prüft, ob diese Angebote geeignet sind. Direktorin Miriam Behrens über Solidarität, Bettangebote im Keller und die Gefahr, Erst- und Zweitklassflüchtlinge zu schaffen.
SRF News: Die Solidarität in der Schweiz ist riesig, viele möchten Flüchtlinge bei sich beherbergen. Nehmen Sie auch jemanden auf?
Miriam Behrens: Ja. Unser Sohn hat soeben eine Wohnung gefunden und zieht aus, dadurch wird bei uns ein Zimmer frei. Wir besprechen, wann genau er gehen wird, damit wir auch jemanden aufnehmen können.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe prüft die rund 40’000 privaten Angebote, ob sie geeignet sind, Geflüchtete zu beherbergen. Müssen Sie oft nein sagen?
Wir haben Mindestkriterien, um die Bedürfnisse der Geflüchteten abzudecken. Wir wollen einen Rückzugsort für die Geflüchteten haben. Es muss zum Beispiel ein abschliessbares Zimmer geben, mit einem Fenster vielleicht. Es gibt aber auch Leute, die zum Beispiel nur ein Bett im Keller hätten. Oder die eine Aufnahme nur für zwei Wochen vorsehen. Das ist zu kurz. Es braucht Stabilität für die Menschen, die hier ankommen.
Sind solche ungeeigneten Angebote die Mehrheit?
Nein, der Grossteil der Angebote entspricht unseren Kriterien. Es hat auch ganze Wohnungen darunter, und mehrere Zimmer in einem Haus. Das ist sehr gut.
Es ist schon ein Unterschied, wenn die Krise direkt vor der Haustür ist.
Fragen Sie sich in dieser Solidaritätswelle nie, wo diese Solidarität bei anderen Kriegen war – in Afghanistan, Jemen oder Syrien zum Beispiel?
Doch, insbesondere beim Afghanistan-Krieg, der ja noch nicht so lange zurückliegt. Da waren wir sehr enttäuscht. Auch, weil der Bundesrat kein zusätzliches Resettlement-Kontingent für Flüchtlinge beschloss und nicht mehr Menschen aus den Nachbarländern in die Schweiz holte. Das hätten wir uns gewünscht.
Warum ist die Hilfsbereitschaft jetzt plötzlich so gross?
Ich glaube, es ist schon ein Unterschied, wenn die Krise direkt vor der Haustür ist. Zudem kommen die Leute auf dem Landweg in die Schweiz. Sie stehen vor der Türe. Das heisst, man muss eine Lösung finden.
Erstmals will der Bundesrat den Schutzstatus S anwenden, der eine unbürokratische Aufnahme und Arbeit ermöglicht. Können Sie verstehen, wenn sich Leute aus anderen Kriegsgebieten benachteiligt fühlen?
Absolut. Wir möchten im Grundsatz ja auch eine Gleichbehandlung. Es freut uns, dass es jetzt so möglich ist. Und im Nachgang werden wir überlegen, ob wir auch den Schutzstatus für andere Geflüchtete verbessern können.
Im Moment aber fordern Sie noch die Verbesserungen beim Schutzstatus S, zum Beispiel, dass die Menschen sofort arbeiten können. Tragen Sie so nicht dazu bei, Erst- und Zweitklassflüchtlinge zu schaffen?
Ich würde das nicht so sehen. Wir fordern ja auch für die anderen Geflüchteten sofortigen Arbeitsmarktzugang. Wenn er jetzt bei einer Gruppe kommen kann, wollen wir dem nicht im Weg stehen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass das dann auch bei den anderen verbessert wird.
Sie erwarten rund 20’000 Menschen aus der Ukraine. Gleichzeitig hört man von Privaten, die in die Region fuhren und kaum Geflüchtete fanden, die in die Schweiz wollten. Kommen vielleicht am Schluss doch nicht so viele, weil sie in der Nähe ihrer Heimat bleiben wollen?
Ich glaube, das hängt sehr von der Entwicklung des Krieges in der Ukraine ab. Viele Menschen warten in den Nachbarländern und hoffen, dass sie rasch zurückkehren können. Wenn das aber nicht so ist oder wenn Russland diesen Krieg gewinnt, werden die Menschen in den anderen europäischen Ländern Zuflucht suchen.
Sie fordern, dass sie sich schnell beruflich und sozial integrieren können, dank Sprachkursen zum Beispiel. Ist das wirklich das, was Menschen brauchen, die möglichst schnell wieder nach Hause wollen?
Wir wissen es nicht. Es sind noch nicht so viele da. Aber das Angebot muss da sein. Wir wollen vorbereitet sein, falls viele kommen, damit diese möglichst schnell integriert werden können.
Ich glaube, wir haben bessere politische Lösungen im Moment, die es erleichtern, dass die Solidarität anhält.
Im Moment kommen vor allem Frauen und Kinder. Schafft eine sofortige Arbeitsmöglichkeit nicht noch einen zusätzlichen psychischen Druck, nämlich schnell wieder funktionieren zu müssen?
Wir wollen die Menschen nicht in den Arbeitsmarkt zwingen, aber sie sollen die Möglichkeit haben. Das allein aber reicht nicht. Es werden viele Kinder kommen. Die Frauen brauchen Entlastung, Stichwort Kinderbetreuung, und die Kinder müssen in die Schule oder studieren können.
Beim Syrienkrieg gab es anfänglich auch ziemlich viel Solidarität. Aber die «Wir schaffen das»-Haltung blieb nicht lange. Wie lange wird die Solidarität diesmal anhalten?
Ich weiss es nicht. Ich hoffe länger. Ich glaube, wir haben bessere politische Lösungen im Moment, die es erleichtern, dass die Solidarität anhält.
Das Gespräch führte Nathalie Christen.