Bei Wind und Wetter, unter sengender Sonne oder im Schlamm kniend jätete der junge Craig Thompson Unkraut und räumte Steine von den Feldern. Von seinem kargen Lohn kaufte er Comics, in deren bunte Welten sein Bruder Phil und er begeistert flüchteten: So verbrachte Thompson seine Kindheit in Marathon im US-Bundesstaat Wisconsin, wo sich das grösste Ginsenganbaugebiet ausserhalb Asiens befindet.
Tatsächlich liebt der Ginseng, die Wurzel mit den vielfältigen Heilwirkungen, das Klima und die Böden um den 45. nördlichen Breitengrad. Das nutzen US-amerikanische Farmer seit über 100 Jahren und exportieren ihren Ginseng nach Asien.
Meister der Autobiografie
«Gingsenwurzeln» ist allerdings kein esoterisches Sachbuch über die geheimnisvolle Heilknolle. Der Titel verweist auch auf Thompsons persönliche Wurzeln, auf seine Herkunft, seine Geschichte.
Craig Thompson gilt als ein Meister der Autobiografie. Weltruhm erlangte er vor rund 20 Jahren mit der Graphic Novel «Blankets», der schonungslosen Abrechnung mit dem fundamentalistisch-evangelikalen Milieu, in welchem er aufgewachsen ist. Seine Eltern waren wiedergeborene Christen, die ihre Kinder mit grösster Strenge aufzogen.
Die vielen Facetten des Ginseng
«Ginsengwurzeln» ist eine hochkomplexe Mischung aus Autobiografie und Familiengeschichte, aus Reportage, Geschichtsbuch und Essay. Auf 450 Seiten umkreist die Graphic Novel sehr unterschiedliche Themen: die Mythologie und die Heilkräfte des Ginsengs, Wirtschaftspolitik zwischen Globalisierung und Protektionismus, Klassenkampf und Migration und nicht zuletzt ökologische Aspekte wie Pestizide und den Klimawandel.
Im Mittelpunkt steht immer Craig Thompson selbst: Zwanzig Jahre nach «Blankets» kehrt er zurück an den Ort seiner Kindheit und setzt sich erneut mit seinem Aufwachsen auseinander, mit seinen Geschwistern und vor allem mit seinen Eltern, mit denen er sich auszusöhnen beginnt.
Subtile Verästelungen
Die Ginsengwurzel kann dabei als Metapher dienen – eine menschenähnlich aussehende Wurzel mit vielen feinen Wurzelfäden, die beim Ausgraben nicht abgerissen werden dürfen. So taucht Thompson in seine Geschichte ein und nimmt möglichst alle Verästelungen mit, die an der zentralen Knolle hängen.
Das kann Weltpolitik sein: Thompson erzählt die Geschichte der Hmong, einem Volk aus Laos, das im Vietnamkrieg an der Seite der CIA kämpfte und dann von den USA im Stich gelassen wurden. Einige Hmong schafften die Flucht – und arbeiten seither im Ginsenganbau.
Doch Thompson bringt auch eine persönliche Note ein. So reflektiert er seine künstlerische Krise und schildert seine Versuche, die Fibromatose zu kurieren, eine Autoimmunkrankheit, die seine Hände so lähmt, dass er jahrelang nur unter Schmerzen zeichnen kann. Die Ursache: Die Pestizide, die er als Kind eingeatmet hat.
Herumwuselnde Wurzelknollen
Zeichnerisch ist Thompson eine Klasse für sich: Sein schwarz-weiss-roter Strich ist realistisch, seine Figuren leben, die Bilder stecken voller Details. Oft überhöht er die Realität metaphorisch oder lässt muntere Ginsengknollen mit grossen Augen das Geschehen kommentieren.
Thompson ist ein begnadeter Erzähler, der locker und zwingend von Thema zu Thema hüpft, immer wieder überraschende Aspekte aufgreift und doch nie die zentrale Wurzel seiner Erzählung aus den Augen verliert – sich selbst.