Sammeln war die Leidenschaft des DDR-Bürgers Helmuth Meissner. In seiner Wohnung in Dresden befand sich eine der bedeutendsten Privatsammlungen des Landes: wertvolles Meissner Porzellan, alte Bilder, Stilmöbel, historische Waffen, Münzsammlungen und: ein kleines Stillleben mit vier Kastanien, nicht grösser als eine Postkarte, gemalt 1705 vom niederländischen Maler Adriaen Coorte.
Im März 1982 wurde diese bedeutende Sammlung von Stasi-Leuten und Steuerfahndern eingepackt und abtransportiert. Meissner war zuvor aus dem Haus gelockt worden. Später wurde der 79-Jährige ohne Diagnose in die Psychiatrie eingewiesen.
Kunstraub für den Sozialismus
Was der Dresdner Sammler und Händler erlebte, war kein Einzelfall. Gilbert Lupfer, Vorstand der Forschungseinrichtung «Deutsches Zentrums Kulturgutverluste», erklärt: «Seit 1973 wurden Sammlerinnen und Sammler in der DDR Opfer von systematischen Kulturgüterentzügen.»
Die DDR-Behörden verkauften die Sammlungen in den Westen – für dringend benötigte Devisen. Sogar eine eigene Firma wurde dafür gegründet: die «Kunst und Antiquitäten GmbH» (KuA). Neben den Entzügen kaufte sie auch ganz regulär Güter an, um sie in den Westen abzusetzen. Der durchschnittliche Jahresumsatz betrug bis zum Fall der Mauer 25 Millionen Mark, etwa 12 Millionen Franken.
Die Kunst und Antiquitäten GmbH war trotz klangvollem Namen eher Brockenhaus als Galerie. Man verkaufte, was verfügbar war: Bauernmöbel, historisches Spielzeug, aber auch Strassenlaternen, Eisenbahnschwellen und Pflastersteine. Ein Ausverkauf der DDR.
Wertvollere Güter wie Stilmöbel oder Bilder landeten in den Lagerhallen der KuA in Mühlenbeck bei Berlin und wurden dort ausgewählten internationalen Kunden zum Kauf angeboten.
Neben Grosshändlern aus der BRD oder den Niederlanden bestanden auch Geschäftsbeziehungen mit Antiquitätenhändlern und Auktionshäusern in Grossbritannien, den USA oder der Schweiz. Das zeigen Akten im Deutschen Bundesarchiv in Berlin.
Die Schweiz als Handelsplatz für Bilder mit dubioser Herkunft – das hat Tradition. In den 1930er-Jahren kamen viele Kunstwerke aus Nazi-Deutschland auf den Schweizer Markt, auf Provenienzen wurde selten geachtet. Die Geschichte des Kastanienbilds zeigt, dass die Schweiz auch 50 Jahre später noch als Drehscheibe diente.
Die Spuren führen in die Schweiz
Das niederländische Stillleben aus der Sammlung von Helmuth Meissner wurde 1984 mit neun anderen Gemälden von der KuA in die Schweiz transportiert. Empfängerin war eine Strohfirma der DDR, die Intrac SA in Lugano. Diese Firma beschäftigte sich mit Waffenhandel, Technologieschmuggel, Steuerbetrug und Geldwäsche.
Ihre dubiosen und von der Schweiz tolerierten Machenschaften hat der Journalist Ricardo Tarli in seinem Buch «Operationsgebiet Schweiz» aufgearbeitet. Die Intrac betrieb auch Kunst-Hehlerei: Die zehn Bilder, die 1984 aus Mühlenbeck an die Intrac gehen, sind für das Schweizer Auktionshaus Koller bestimmt.
Objekte mit dubioser Herkunft
Auf Nachfrage von SRF stellt Geschäftsführer Cyril Koller 40 Jahre später Nachforschungen an. Erste Resultate bestätigen: Das Auktionshaus Koller hat in den 1980er-Jahren fünf Möbelstücke und drei Bilder von der Intrac angekauft. In den Akten der KuA taucht das Auktionshaus Koller immer wieder auf, Cyril Koller hingegen betont: Die Geschäftsbeziehung sei «keine bedeutende» gewesen.
Das Kastanienbild hat das Auktionshaus jedenfalls nicht angenommen. Es gibt allerdings Hinweise, dass es ein anderes Gemälde, das Helmuth Meissner entzogen wurde, angekauft hat.
In den Akten ist ausserdem ein Besuch von Pierre Koller in den Lagerhallen in Mühlenbeck bei Ostberlin vermerkt. Cyril Koller erinnert sich, dass sein Vater ganz offen davon erzählte: «Ich gehe davon aus, dass meinem Vater Pierre Koller mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damals nicht bewusst war, ein DDR-Raubkunst-Lager besucht zu haben.»
Allerdings gab es bereits Mitte der 1980er-Jahre Berichte über die Kulturgut-Entzüge in der DDR. Spätestens ab dann war es in der Branche nicht mehr so einfach zu behaupten, man wisse von nichts.
Kunstkrimi über die Grenzen
1985 geht das Gemälde mit den vier Kastanien unverkauft zurück in die DDR, wird ein zweites Mal in die Schweiz zur Intrac verschickt und geht von dort weiter nach Amsterdam. 1988 wird es beim Auktionshaus Christie’s versteigert.
Das «Stillleben mit vier Kastanien» kauft der Coorte-Spezialist und Altmeisterhändler David Koetser, der eine Galerie in Zürich führt. Er bezahlt 115‘000 Gulden (umgerechnet 112‘000 Schweizer Franken) und verkauft das Gemälde 1989 für mehr als das Doppelte an ein US-amerikanisches Sammlerpaar, Henry und June Weldon.
Die Kunstwelt liebt Wiederentdeckungen
Üblicherweise ist das das Ende der Geschichte. Doch das Kastanienbild von Adriaen Coorte verschwindet nicht. Immer wieder wird es international ausgestellt. Denn Coorte ist plötzlich gefragt. Der völlig vergessene niederländische Altmeister wird wiederentdeckt.
Keine unerhebliche Rolle spielt dabei Galerist David Koetser, der das Kastanienbild in Amsterdam ersteigerte. Er bringt Coortes Bilder wieder auf den Markt, organisiert Expertisen, finanziert Ausstellungen. Der Maler wird auch dank Koetser Teil des Kanons der Kunstgeschichte. Und das zahlt sich aus. 2014 wird ein Coorte-Stillleben mit Pfirsichen und Schmetterling für fünf Millionen Dollar versteigert.
Das sehr viel bescheidenere Kastanienbild befindet sich seit 1989 in der Sammlung der Weldons. Weil es aber an internationalen Ausstellungen zu sehen ist, wird es nach Helmuth Meissners Tod von Sohn Konrad Meissner aufgespürt. Und 2011 als entzogen zurückgefordert.
Kaum Regelungen für Restitutionen
Für Kunstwerke, die im NS-Regime geraubt oder von jüdischen Sammlerinnen und Sammlern unter Wert verkauft werden mussten, bestehen internationale Abkommen. Die «Washingtoner Prinzipien» etwa verpflichten öffentliche Museen, für NS-verfolgungsbedingte Entzüge «faire und gerechte Lösungen» zu finden. Für Kulturgutentzüge in der DDR fehlt so etwas.
Zwar restituieren deutsche Museen Objekte, die einst DDR-Sammlerinnen und -Sammlern entzogen wurden. Auch die Erben von Helmuth Meissner erhielten einzelne Kunstwerke zurück, etwa von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden oder von der Nationalgalerie Berlin. Die Weldons aber bestehen als Private in den USA auf ihrem Bild.
Aussergerichtliche Einigung
Es folgen ein langwieriger Rechtsstreit und erste Medienberichte über den spektakulären Fall. Denn: Kein anderes Objekt lässt sich so gut in den Akten der KuA verfolgen und kaum ein anderer Kulturgutentzug der DDR landet vor Gericht.
Der Streit um das Kastanienbild von Adriaen Coorte wird schliesslich aussergerichtlich beigelegt: Es kommt zu einer Einigung zwischen dem Erben des Sammlerpaars Weldon und dem Sohn von Helmuth Meissner. Über die Einigung wird wie üblich Stillschweigen vereinbart.
Zurück in die Zürcher Galerie
Damit ist das Gemälde wieder bereit für den Kunstmarkt. Und tatsächlich: Im Sommer 2023 ist das «Stillleben mit vier Kastanien» wieder zu verkaufen. Und zwar dort, wo es schon einmal verkauft wurde, in der Galerie von David Koetser – mit dem wichtigen Zusatz: «All claims have been settled», also alle Klagen wurden beigelegt.
Die Geschichte des Kastanienbilds zeigt, wie wenig wir über die systematische Beraubung von Sammlerinnen und Sammlern in der DDR wissen, obwohl die Spuren in die Schweiz führen. Einmal mehr diente das Land als Drehscheibe für Kunstwerke mit dubioser Herkunft.
Das Kastanienbild ist unterdessen aus Koetsers Angebot wieder verschwunden. Wurde es verkauft? Der Galerist sagt dazu, der Eigentümer habe sich doch entschieden, das Bild zu behalten. Vielleicht waren die Kaufangebote nicht ganz so hoch wie erhofft.