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«Trauriger Tiger»: Neige Sinno über ihre Missbrauchserfahrung
Aus Kultur-Aktualität vom 10.09.2024. Bild: Imago/Abacapress
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Bestseller «Trauriger Tiger» Neige Sinno über den Missbrauch, den sie als Kind erleben musste

Ungefiltert und kaum zu ertragen: «Trauriger Tiger» der französischen Autorin Neige Sinno ist ein erschütternder Bericht ihrer eigenen Vergewaltigung in der Kindheit. Nun erscheint der Bestseller auf Deutsch.

Neige Sinno lacht ausgelassen, als sie aus einem Tonstudio in München zugeschaltet wird. Mit der Heiterkeit ist es aber sofort vorbei, als wir über ihr Buch «Trauriger Tiger» zu sprechen beginnen. Darin schildert die 47-jährige Französin den Missbrauch, den sie jahrelang als Kind erlebt hat.

Meine Wut ist gegen die Ungerechtigkeit in unserer Welt gerichtet, gegen die Gewalt des Schweigens.
Autor: Neige Sinno Autorin

Sie habe das Buch geschrieben, obwohl sie schon vorher gewusst habe, dass das Schreiben keine therapeutische Wirkung auf sie haben würde. Letztlich sei sie aber von ihrer immensen Wut angetrieben worden.

Details, die kaum zu ertragen sind

«Allerdings habe ich den Eindruck, dass ich diese Wut im Buch wie ein wildes Pferd im Zaum halte», sagt Sinno. Sie habe darauf geachtet, die Wut nicht gegen den Leser zu wenden, sondern sie mit ihm zu teilen. «Diese Wut ist gegen die Ungerechtigkeit in unserer Welt gerichtet, gegen die Gewalt des Schweigens, das man uns auferlegt.»

Neige Sinno bricht das Schweigen, indem sie mit umwerfender Ehrlichkeit und kaum zu ertragender Detailliertheit erzählt, wie sie zwischen etwa sieben und vierzehn Jahren von ihrem Stiefvater regelmässig vergewaltigt wurde.

Es gibt keine Rechtfertigung

Der Täter ist ein von vielen geschätzter Mann. Jemand, der absurderweise von sich selbst behauptet, er habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Die Sprache und seine Sichtweise, die er mir auferlegt hat, sind auch eine Vergewaltigung.
Autor: Neige Sinno Autorin

In einer klaren, nie verklärenden Sprache, reich an klugen Überlegungen, flankiert von Zitaten aus der Weltliteratur und ergänzt durch Originaldokumente wie der Anzeige des Missbrauchs, schildert Sinno ihre Erlebnisse und die anderer – und stellt die Frage nach dem Warum.

Buchhinweis

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Neige Sinno: «Trauriger Tiger». Aus dem Französischen von Michaela Messner. dtv, 2024.

Dabei lässt sie keine Rechtfertigungen dieses und anderer Missbrauchstäter gelten. Rechtfertigungen wie «ich liebe dich doch» oder «das ist nur ein Spiel zwischen uns».

«Die Sprache und seine Sichtweise, die er mir auferlegt hat, sind auch eine Vergewaltigung: eine Vergewaltigung meines Geistes», analysiert die Autorin, die in Mexiko lebt und dort Literatur unterrichtet.

Johnny Hallyday als Trauma-Trigger

Eine von zehn Personen sei in Frankreich in der Kindheit missbraucht worden, erzählt Neige Sinno. Das sei in anderen Ländern Europas sicher nicht anders. Immer noch wird das Thema oft totgeschwiegen, bleibt ein gesellschaftliches Tabu.

Wenn der eigentliche Missbrauch vorbei ist, kommt er im Kopf immer wieder hoch. Etwa durch einen Geruch oder ein Geräusch, das das Opfer mit dem Täter assoziiert. Neige Sinnos Stiefvater liebte zum Beispiel die Musik von Johnny Hallyday. Diese Musik ist deshalb für sie im Alltag ein Trigger.

«Ich weiss dann ja, dass das nur vorübergehend ist. Wie die meisten traumatisierten Opfer gehe ich damit leise um, unbemerkt von meinem Umfeld», sagt Sinno. «Wenn im Kino plötzlich ein Song von Johnny Hallyday zu hören ist, dann lasse ich die anderen mitsingen und ihren Spass haben.» Das Problem sei nicht die Musik selbst, sondern dass sie sie mit ihrem Stiefvater verbinde: «Sie lässt mich einfach zerbrechlich werden.»

«Trauriger Tiger» ist ein berührendes und erschütterndes Buch, eine notwendige Zumutung und eine dringliche Aufforderung, genauer hinzusehen.

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Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 10.9.2024, 17:20 Uhr.

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