Die Schweiz hat eine lange und glorreiche Krimi-Tradition – von Friedrich Glauser über Friedrich Dürrenmatt bis zu den aktuell boomenden Regionalkrimis und True-Crime-Storys. Die SRF-Literaturredaktion stellt die Krimis vor, die Sie gelesen haben müssen.
Der Klassische – Friedrich Glauser: «Wachtmeister Studer»
Mit dem ersten Fall des behäbigen Polizisten Studer als Ermittler schrieb Friedrich Glauser Krimigeschichte: Der 1936 veröffentlichte Roman erzählt von einem Mordfall in einem Dorf, in den fast alle Bewohnerinnen und Bewohner verwickelt sind. Die Dorfidylle erweist sich als Fassade. Dahinter spielt sich Abgründiges ab: skrupelloser Eigennutz, Falschheit, bittere materielle Not. Glausers atmosphärisch dichter Roman ist voller Sozialkritik, Psychologie und Spannung – und überzeugt bis heute als meisterhaftes literarisches Krimistück.
Der Wahre – Christine Brand: «Bis er gesteht»
Der Zwillingsmord im zürcherischen Horgen an Heiligabend 2007 erregte viel Aufmerksamkeit: Zwei siebenjährige Zwillinge wurden erstickt. Nach langem Leugnen gestand die Mutter der Kinder die Tat. Und sie gab zu, zuvor bereits ihr erstgeborenes Kind getötet zu haben. Die ehemalige Gerichtsreporterin und heutige Erfolgsautorin Christine Brand rekonstruiert in ihrem Buch den unbegreiflichen Fall minutiös, der sich in einer nach aussen hin vermeintlich intakten Familie abspielte – und dadurch diesen Schweizer True Crime umso beklemmender macht.
Der Philosophische – Friedrich Dürrenmatt: «Das Versprechen»
Im 1958 erschienenen Krimi geht es um ein Sexualdelikt an einem kleinen Mädchen. Der packende Roman schildert, wie ein überaus scharfsinniger Ermittler den Fall löst – oder beinahe. Denn kurz vor Schluss grätscht der Zufall ins Geschehen: Der Fall bleibt ein «Cold Case». Das ist typisch Dürrenmatt: Die Welt lässt sich durch Vernunft und Kombinationsgabe weder ergründen noch beherrschen. Am Ende unterliegt der Mensch bei aller Logik und allem Sachverstand grotesken Realitäten – und bleibt dazu verdammt, im Labyrinth von Absurditäten zu irren.
Der Historische – Gabriela Kasperski: «Zürcher Verrat»
Zürich, Opernhaus: An der Endprobe zu Verdis Macbeth kommt ein Mann unter mysteriösen Umständen zu Tode. Weil sie tatverdächtig ist, flieht die Chorleiterin Lou Müller. Das Ermittlerpaar Meier & Schnyder deckt nach und nach die ergreifende Geschichte einer Kindheitsfreundschaft aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf. Was geschah damals? Gibt es Überlebende bis heute? Am Ende offenbart sich abgrundtiefer Judenhass mitten in der Zürcher Nobelgesellschaft, der bis ins Heute ragt. Sorgfältig recherchiert, rasant erzählt und mit einem hochemotionalen Schluss.
Der Lebenskluge – Hansjörg Schneider: «Hunkeler in der Wildnis»
Der Roman von 2020 erzählt den zehnten und bisher letzten Fall mit dem bärbeissigen und doch liebenswürdigen Basler Kommissär Peter Hunkeler. Dieser ist in der Zwischenzeit pensioniert. Doch nach dem Mord an einem bekannten Kunstkritiker ruft erneut die Pflicht. Der Roman ist vielleicht der beste der Reihe, scheint in ihm doch der ganze Schneider zusammenzukommen: eine kriminalistische Handlung, viel Lokalkolorit, Rückgriffe auf die Historie sowie lebenskluge Betrachtungen über das Altern – und dies alles dargeboten in einer eindringlich-melancholischen Sprache.
Der Gesellschaftskritische – Petra Ivanov: «Entführung»
Am Anfang des Romans aus der Reihe mit dem Ermittlerduo Pal Palushi, Rechtsanwalt, und Jasmin Meyer, Ex-Polizistin, steht die Entführung einer Millionärstochter. Die Medien überschlagen sich mit Spekulationen. Die Nachforschungen führen zu einem Netz sinistrer Islamisten. Der Krimi ist in einem flüssigen und klaren Stil gehalten. Er besticht zudem dadurch, dass er aktuelle Zeitfragen aufgreift: etwa unseren Umgang mit verschiedenen Ausprägungen des Islams, oder die Rolle der Medien in einer auf Aufregung konditionierten Gesellschaft.
Der Literarische – Michael Fehr: «Simeliberg»
Bauer Schwarz wird verdächtigt, seine Frau umgebracht zu haben. Gemeindeverwalter Griese muss ihn holen und zur Sozialbehörde bringen. Auf dem abgelegenen Hof findet er Tausendernoten, Maschinengewehre und muss sich abstruse Ideen des «Landmanns» von einer Zukunft auf dem Mars anhören. Eine wilde Jugendbande taucht auf und für Griese wird es immer brenzliger. Was im Titel nach Heimatroman klingt, beschreibt eine düstere Schweiz mit freudlosen, bösen Menschen. Erzählt in einer rhythmisierten Kunstsprache zwischen Hochdeutsch und Mundart, atmosphärisch, kräftig, mitreissend – ein Leseabenteuer ohnegleichen!
Der Jugendfreie – Alice Gabathuler: «Die Mutprobe»
Florian, 15, ist mit einem Kollegen auf einen baufälligen Turm geklettert. Der Kollege ist in die Tiefe gestürzt – und Florian hat ihn schwerverletzt zurückgelassen. Aus den Medien prasseln Hasstiraden auf Florians ganze Familie nieder. Sein Bruder Yannik versucht, auf eigene Faust zu ermitteln. Eine spannende Geschichte, die unter anderem geprägt ist vom persönlichen Umgang mit einem traumatischen Ereignis und von der Frage, wie in der Gesellschaft mit emotionalen Themen umgegangen wird. Erzählt in knapper, authentischer Sprache. Keine einfache Lektüre, aber sehr lohnenswert.
Der Internationale – Kaspar Wolfensberger: «Gommer Herbst»
Die Geschichte beginnt mit zwei toten Jägern im Goms und einer ominösen «IG Wolf». Das Ermittlerteam um den frühpensionierten Kriminalpolizisten «Chutz» Walpen gerät zwischen die Fronten von Wolfshassern und Wolfsverherrlichern, aber auch in alte Gommer Familienverstrickungen und Auswanderungsgeschichten aus dem 19. Jahrhundert. Am Ende spielt auf unvorhersehbare Weise die frühere Militärdiktatur in Argentinien mit hinein. Ein veritabler Pageturner, voller Wendungen und Überraschungen, profund recherchiert und atmosphärisch tief verankert im Oberwallis. Herzerwärmende Dialoge auf Walliserdeutsch inklusive.
Der Regionale – Christof Gasser: «Schwarzbubenland»
Grosses Gangsterkino im malerischen Jura: Was mit der Suche nach einer verschwundenen Frau aus der Solothurner High Society beginnt, endet im blutigen Showdown in einer abgelegenen Scheune im Solothurner Schwarzbubenland. Dazwischen: Mehrere Tote, viele Fährten und undurchschaubare Verstrickungen. Durch ihre Recherchen wird die Journalistin Cora Johannis immer gefährlicher in die Geschichte rund um eine osteuropäische Drogen- und Prostituiertenbande hineingezogen. Der Krimi lebt von der Spannung, von der verzweigten Handlung und vom präzisen Lokalkolorit der Handlungsorte.