Auf den Bestsellerlisten des Deutschschweizer Buchmarkts rangieren Krimis aus heimischen Küchen regelmässig ganz oben. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum das Genre so beliebt ist, führt zunächst in verschiedene Buchhandlungen. Dort fällt auf: Fast alle haben spezielle Krimiecken oder Krimi-Büchertische eingerichtet. Zumeist unübersehbar im Eingangsbereich.
In der Deutschschweiz schafften es 2024 mit Christine Brand, Martin Suter, Silvia Götschi und Philipp Gurt gleich vier Schweizer Krimiautorinnen und Krimiautoren in die Jahres-Top 10. Und: Viele Schweizer Autorinnen und Autoren kommen auch im Ausland gut an. Die Krimiproduktion brummt – sowohl in der Deutschschweiz, als auch in der Romandie, weniger jedoch in der italienischsprachigen und der rätoromanischen Schweiz. Doch was macht Schweizer Krimis aus?
Verbrechen in der Nachbarschaft
Ein erstes Indiz liefert ein Blick auf die Büchertische in den Buchhandlungen. Da fällt auf: Besonders häufig vertreten sind Titel wie «Engadiner Abgründe», «Appenzeller Abrechnung» oder «Zürcher Verrat»: Regionalkrimis, also Verbrechergeschichten, die in einer bestimmten Schweizer Region angesiedelt sind.
So lässt der Bündner Erfolgsautor und Vielschreiber Philipp Gurt seinen aktuell siebzehnten Regionalkrimi «Todesengel» in der pittoresken Churer Altstadt spielen und am malerischen Crestasee. «Das Nebeneinander von brutaler Gewalt und paradiesisch anmutender Umgebung», erklärt Gurt, «erzeugt eine besondere Spannung.» Der Erfolg gibt ihm recht.
Die Gründe für den Boom der Regionalkrimis lägen aber auch in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, sagt Thomas Barfuss. Er ist Kulturwissenschaftler am Institut für Kulturforschung Graubünden und Autor einer wissenschaftlichen Studie zum Thema.
Regionalkrimis vermitteln dem Publikum laut Barfuss «Nähe, Wiedererkennbarkeit und Verortung». Dies entspreche dem aktuellen allgemeinen Trend hin zum Regionalen, so wie er etwa in der Lebensmittelbranche zu beobachten ist: Regionale Produkte ziehen. Was für Blumenkohl und Kartoffeln gilt, stimmt auch für Krimis.
Erzählung vom Bösen
Hinzu komme, erklärt Barfuss, dass Regionalkrimis «herkömmliche Grenzen überschreiten». So würden Touristinnen und Touristen die Bücher bisweilen als unkonventionelle Reiseführer lesen. Dem einheimischen Lesepublikum eröffneten Regionalkrimis die Chance, «die eigene Region neu zu sehen und zu entdecken».
Mittlerweile geben Tourismusregionen oder sogar einzelne Hotels Regionalkrimis in Auftrag. In der Hoffnung, Gäste anzulocken, welche die Schauplätze des Krimigeschehens vor Ort besichtigen möchten.
Liegt das typisch Schweizerische von Schweizer Krimis also an den Kulissen mit ihrer spezifisch schweizerischen Patina? Nein, oder zumindest nicht nur. Die Sache ist komplizierter. Dies erschliesst sich beim zweiten Blick auf die Auslagen der Buchhandlungen. Oder auch beim Besuch einschlägiger Online-Bookshops. An beiden Orten sind neben Regionalkrimis auch Schilderungen von wahren Verbrechen prominent vertreten, die sogenannten True Crimes.
So landet die ehemalige Gerichtsreporterin Christine Brand regelmässig auf Platz eins der Bestsellerlisten – mit wahren Krimis oder mit fiktiven Fällen, die oft von realen inspiriert sind.
Der grosse Zuspruch des Publikums, den True Crime findet, sei aus psychologischer Sicht «nur logisch», findet Monika Egli-Alge. Sie ist forensische Psychologin, Gründerin des Forensischen Instituts Ostschweiz in Frauenfeld und erstellt für Gerichte regelmässig Gutachten über Straftäter. «Das Interesse am Bösen ist urmenschlich», sagt Egli-Alge.
Generell würden Krimis «unsere Neugierde für die dunklen Seiten der Seele» befriedigen. Diesbezüglich sei der True Crime dem fiktiven Krimi gar überlegen: «Die emotionale Beteiligung des Publikums ist grösser, weil das Geschilderte echt ist und sich nicht als Fantasie abtun lässt.»
Die «grossen Zwei»
Kein Wunder waren die ersten Krimis der Schweiz True Crimes: Im 19. Jahrhundert erschienen in schmalen Heften mehr oder weniger literarisch gestaltete Berichte von wahren Verbrechen und Gerichtsverfahren. Doch mit Beginn des 20. Jahrhunderts lief der fiktive Kriminalroman diesen frühen True Crimes mehr und mehr den Rang ab. In den 1930er-Jahren betrat dann einer der grössten Schweizer Autoren fiktiver Krimis schlechthin die literarische Bühne: Friedrich Glauser.
Glauser inspirierte sich beim Belgier Georges Simenon und dessen Kommissar Maigret. Und er schuf seinerseits mit Wachtmeister Studer jene Schweizer Ermittlerfigur, welche die deutschsprachige Kriminalliteratur auf Jahrzehnte hinaus prägen sollte.
Christa Baumberger ist Glauser-Forscherin in Zürich. Sie sagt, die Fälle mit der behäbigen Berner Polizistenfigur Studer seien etwas «Brandneues» gewesen in der Schweizer Literatur. Glauser habe für seine Romane aus seinen eigenen bitteren Erfahrungen als Aussenseiter, Entmündigter und Drogensüchtiger geschöpft.
In einzigartiger Weise habe er «atmosphärisch dichte Texte» geschaffen mit «menschlichen» Figuren, die «bis heute lebendig und glaubwürdig wirken». Kein Wunder, gilt Glauser heute weitherum als «Urvater des Schweizer Krimis».
Der Anti-Krimi
Seinen literarischen Rang teilt Friedrich Glauser einzig mit dem «zweiten Grossen», mit Friedrich Dürrenmatt. Dieser schuf in den 1950er-Jahren mit Werken wie «Der Richter und sein Henker» oder «Das Versprechen» Krimis, die ebenfalls durch markante Ermittlerpersönlichkeiten à la Studer geprägt sind.
Hinzu kommt eine philosophische Tiefe, welche die Dürrenmatt-Krimis einzigartig macht. So vermag der Kommissar in «Das Versprechen» die Tat, ein Sexualverbrechen, zwar aufzuklären. Er weiss, wer der Täter ist und stellt ihm eine Falle. Doch kurz bevor der Täter überführt ist, grätscht der Zufall dazwischen: Der Verdächtige kommt ums Leben. Das Verbrechen gerät zum Cold Case. Der Kommissar stürzt in den Wahnsinn.
Dürrenmatt spielte mit diesem Krimiplot seine Sicht der Welt durch: Im Unterschied zu den Postulaten der Aufklärungsepoche ist laut Dürrenmatt der Absurdität und Widersinnigkeit der Welt durch Logik und Sachverstand nicht beizukommen.
Dürrenmatt bezeichnete «Das Versprechen» im Untertitel denn auch als «Requiem auf den Kriminalroman». Für Dürrenmatt war das Unvorhersehbare der Normalfall: die Welt als Groteske und Labyrinth, in dem sich der Mensch verlieren muss.
Markante Ermittlerfiguren
Nach Glauser und Dürrenmatt führt die Suche nach dem typischen Schweizer Krimi zu einem dritten Autor, der in der Linie mit markanten Ermittlerpersönlichkeiten steht: zum in Basel lebenden Hansjörg Schneider.
Sein Kommissär Hunkeler hat in insgesamt zehn Fällen ermittelt. Er zeichnet sich in Glauserscher und Dürrenmatscher Manier durch hervorstechende Charakterzüge aus: knorrig-kauzig, ein Melancholiker, dem technischen Fortschritt abgeneigt – aber brillant im Denken.
Glauser, Dürrenmatt und Schneider – die Reihe ihrer eigenwilligen Ermittler ist fester Bestandteil der Schweizer Krimitradition. Die Figuren standen Pate bei späteren Detektivfiguren, aber längst nicht bei allen.
Der Schweizer Krimi ist vielgestaltig
Wie ist das also mit dem typischen Schweizer Krimi? Vielleicht weiss der in Bern lebende Ostschweizer Paul Ott eine Antwort. Er ist Verfasser eines Standardwerks über die Geschichte des Schweizer Krimis und Gründer des Schweizer Krimiarchivs in Grenchen. Krimis sind sein Leben.
Sind die Charaktere Studer und Co. und ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger das Schweizerische am Schweizer Krimi? «Vermutlich schon», sagt Paul Ott, wahrscheinlich werde man tatsächlich «am ehesten bei diesen markanten Figuren fündig, wenn man das typisch Schweizerische» suche.
Aber waschecht schweizerisch, schiebt Ott nach, seien die Figuren dann doch nicht, denn sie gingen alle auf Kommissar Maigret zurück. Denn der ist belgischer Bauart.
Hinzu kommt: Es haben sich längst verschiedene Krimigenres herausgebildet – Agententhriller, Spionagegeschichte, Actionroman, Krimikomödie. Auch sind zunehmend Ermittlerinnen am Werk und es herrscht Teamwork. Die Zeiten des einsamen männlichen Ermittlertyps seien «heute vorbei», sagt Ott.
Das Fazit des Krimiexperten: «Den typischen Schweizer Krimi gibt es nicht.»
So bleibt am Ende der Suche die Erkenntnis, dass sich der Schweizer Krimi nicht festlegen lässt – weder auf typische Charaktere, noch auf Kulissen und schon gar nicht auf typische Handlungen. Zu vielfältig sind die Entwicklungen, die das Genre genommen hat.
Vielleicht ist Vielfalt die Antwort: Der Schweizer Krimi ist durch seine Vielfalt charakterisiert. Zugegeben: Diese Antwort mag etwas vage anmuten, aber sie klingt doch irgendwie schweizerisch, oder?