Diktate waren für ihn in der Schule eine Qual, das Vorlesen vor der Klasse auch. Christian Haller, der als Kind unter eine Lese-Rechtschreib-Schwäche litt, hat es zu einem der renommiertesten Schriftsteller der Schweiz gebracht.
Haller ist 80 Jahre alt. Zahlreiche Literaturpreise hatte er bereits gewonnen. Am Sonntagmittag wurde er nun mit dem Schweizer Buchpreis 2023 ausgezeichnet. Die Verleihung fand im Theater Basel statt.
Der Schweizer Buchpreis ehrt jeweils das beste Schweizer Buch des Jahres. Christian Haller erhält die Auszeichnung für seine Novelle «Sich lichtende Nebel».
Ein Buch über Quantenphysik – und vieles mehr
Das Buch spielt im Jahr 1925: Der junge Physiker Werner Heisenberg beobachtet in einer nebligen Nacht, wie ein Mann in den Lichtkegel einer Strassenlaterne tritt. Nach wenigen Schritten verschwindet er im Dunkeln, kurz darauf taucht er im nächsten Lichtkegel wieder auf. Was ist mit diesem Mann in der Zwischenzeit, während er nicht sichtbar ist?, fragt sich Heisenberg. Existieren Dinge nur dann, wenn man sie sieht?
Diese Überlegung löst in ihm eine innere Unruhe aus. Er spürt, dass er kurz vor der Lösung eines theoretischen Problems steht. Und tatsächlich wird er in den kommenden Wochen bahnbrechende Erkenntnisse auf dem Gebiet der Quantenphysik machen.
Mischung aus Fakten und Fiktion
Werner Heisenberg gab es wirklich; er zählt zu den bedeutendsten Physikern des 20. Jahrhunderts. Auch sein Erlebnis – die Beobachtung eines Mannes im Laternenlicht – ist verbrieft. Hier hat sich Christian Haller also an Fakten orientiert. In seiner Novelle schreibt er aber auch über den Mann, über den man nichts weiss: den Mann unter der Laterne.
Haller hat ihm den Namen «Helstedt» gegeben. Der pensionierter Historiker trauert um seine verstorbene Frau und hat eines Morgens das Gefühl, in Gegenstände hineinschauen zu können. Er sieht, wie kleinste Teilchen umherflirren, wie sie sich anziehen und wieder abstossen.
Was der Physiker Heisenberg als Wissenschaftler erforscht, scheint Helstedt auf wundersame Weise zu erleben.
Elegante Sprache
Trotz des gewichtigen Themas liest sich Christian Hallers Werk an keiner Stelle wie ein Physik-Lehrbuch – ganz im Gegenteil: Hallers Sprache ist von tänzelnder Eleganz. Und mit ebendieser Eleganz führt Haller Physik und Philosophie zusammen – und macht Literatur daraus.
Anhand der beiden Hauptfiguren – Heisenberg und Helstedt – verhandelt er Fragen wie: Wie beschreibt man Unbeschreibliches? Wie sagt man Unsagbares? Oder: Wie verlässlich ist unsere Wahrnehmung?
Die Buchpreis-Jury lobte Haller mit den Worten: «Meisterhaft verdichtet er die komplexen Themen zu einer Novelle, die einfach und leicht verständlich daherkommt und dabei durch gedanklichen Tiefgang ebenso überzeugt wie durch sprachliche Eleganz und Klarheit.»
Dünnes, aber gewichtiges Buch
Nach Bekanntgabe der Shortlist galt Haller schnell als Favorit auf den diesjährigen Schweizer Buchpreis. Lediglich Sarah Elena Müller wurde als Konkurrenz erachtet. Mit ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» hat sie in diesem Jahr ein so beklemmendes wie beeindruckendes Debüt vorgelegt.
Letztlich dürfte es wohl die sprachliche Leichtigkeit gewesen sein, von der «Sich lichtende Nebel» durchzogen ist, die die Jury überzeugt hat. Hallers Novelle hat nur 120 Seiten. Aber sie ist 2023 das gewichtigste Schweizer Buch.