5. Arno Geiger: «Das glückliche Geheimnis» (17 Punkte)
In seinem autobiografischen Buch «Das glückliche Geheimnis» erzählt Arno Geiger von seinem langen Weg zur Schriftstellerei, seinen alternden Eltern und der grossen Liebe.
Zudem verrät er, dass er über Jahrzehnte ein Doppelleben geführt hat: im Geheimen streifte er regelmässig durch die Stadt und suchte in Altpapiercontainern nach Briefen und anderen Dokumenten wildfremder Menschen.
Beeindruckend offen erzählt der Autor, wie ihm dies den Zugang zu anderen Lebenswirklichkeiten eröffnete – und ihn als Künstler inspirierte.
Arno Geiger ist mit «Das glückliche Leben» ein ergreifendes Lebensbuch gelungen. Es besticht durch eine schonungslose Offenheit, die das Buch zu einer Hommage ans Erzählen überhaupt werden lässt.
4. Mohamed Mbougar Sarr: «Die geheimste Erinnerung der Menschen» (20 Punkte)
Diégane lebt in Paris und will so berühmt werden wie sein literarisches Idol T.C. Elimane. Elimane war ein senegalesischer Schriftsteller, der in den 1930er-Jahren ein Kultbuch schrieb und als «schwarzer Rimbaud» im französischen Feuilleton gefeiert wurde. Bis er spurlos verschwand. Zufall oder Schicksal, dass Diégane in einem Café ausgerechnet jener Senegalesin begegnet, die Elimanes verschollen geglaubtes Kultbuch besitzt?
Der Roman ist ein sprachlich virtuoser Mix aus Krimi, Liebesgeschichte und Bildungsroman, in dem sich der Autor kritisch mit dem 20. Jahrhundert und dem Erbe des Kolonialismus auseinandersetzt.
Ein anspruchsvolles Lesevergnügen mit wunderschönen Passagen über die Liebe, das Leben und die Suche nach Wahrheit, die die Essenz unseres Lebens ist.
3. Sarah Elena Müller: «Bild ohne Mädchen» (22 Punkte)
In «Bild ohne Mädchen» verhandelt die Autorin Sarah Elena Müller das schwierige Thema Kindesmissbrauch. Sie siedelt ihre Geschichte in den 1990ern in einem kulturaffinen Milieu an.
Ein namenloses Mädchen auf dem Land verbringt viel Zeit bei ihrem Nachbarn, der sie immer wieder für seine Kunstprojekte filmt. Die Eltern schauen weg. Nur sein eingebildeter Freund, ein Engel, hilft dem Kind. Der Roman macht uns zu Zeugen der Hilflosigkeit.
Müller erzählt grösstenteils aus dem Blick des Kindes, was für einen traumartigen und ungewöhnlichen Verfremdungseffekt sorgt. Ein so beklemmendes wie brillantes Debüt.
«Bild ohne Mädchen» beschreibt, wie Missbrauchsfälle häufig unentdeckt bleiben können, aufgrund psychischer Widerstände von Angehörigen, die verhindern, das eigentlich Offensichtliche zu sehen – und hält der Schwere des Stoffs zugleich einen subversiven Humor entgegen.
2. Christian Haller: «Sich lichtende Nebel» (23 Punkte)
Kopenhagen, 1925. Der Physiker Werner Heisenberg beobachtet zufällig, wie in einer nebligen Nacht ein Mann in den Lichtkegel einer Strassenlaterne tritt und nach wenigen Schritten im Dunkeln verschwindet, um im nächsten Lichtkegel erneut aufzutauchen.
Diese Beobachtung löst in ihm eine innere Unruhe aus. Er spürt, dass er nahe an der Lösung eines theoretischen Problems ist. Der Mann im Dunkeln ahnt nicht, dass sein nächtlicher Gang nach Hause die Quantenmechanik begründen wird.
Eine Novelle über die Unschärfen im Leben, die zu neuen Realitäten führen können.
Christian Hallers Novelle berichtet davon, wie durch eine Zufallsbegegnung die Unschärferelation entdeckt wird. Das klingt abstrakt; Hallers Personen sind jedoch keine blossen Spielfiguren, sondern werden als Individuen lebendig.
1. Sarah Jollien-Fardel: «Lieblingstochter» (35 Punkte)
Ein Dorf im Wallis. Ein Familienvater, der seine Frau und die beiden Töchter schlägt, die ältere sexuell missbraucht. Die Frauen wehren sich nicht. Das Dorf weiss, was vor sich geht. Und schweigt. Aus diesem Trauma versucht die jüngere Tochter, Jeanne, im Laufe ihres Lebens immer wieder einen Weg zu finden.
In kurzen, rhythmischen Staccato-Sätzen und mit viel Einfühlungsvermögen wird das Innenleben einer Figur nach aussen gekehrt. Und aufgezeigt, mit welchen Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und seelischen Verletzungen Jeanne noch Jahrzehnte nach den Ereignissen zu kämpfen hat.
Der Roman der Walliser Autorin war im letzten Jahr für den Prix Goncourt nominiert und erhielt den Prix du Roman Fnac und den Choix Goncourt de la Suisse 2022.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so perfekten Erstlingsroman gelesen zu haben. Konzentriert, dicht und sprachlich sorgfältig.