5. Emmanuelle Fournier-Lorentz: «Villa Royale» (14 Punkte)
Palma und ihre Geschwister fahren im orangen R5 durchs nächtliche Frankreich. Wohin die Reise geht, wissen sie nicht. Ihre Mutter zieht mit ihnen alle drei Monate um, seit der Vater eines Morgens tot auf dem Teppich lag. Nur in der abgekapselten Welt des Autos können sie vorsichtig über das Geschehene sprechen, während die Nacht schemenhaft und surreal an ihnen vorbeizieht.
«Villa Royale» ist die Geschichte einer Familie, deren Mitglieder einander zum Überleben brauchen. In starken, intensiven Bildern stellt die Autorin Intimität her und lässt uns Teil dieses Familiengefüges werden, das verzweifelt einen Ausweg aus der Trauer sucht und dabei zum reinen Kern der Liebe vorstösst.
Ein starkes Debüt mit viel Suspense. In jedem Satz lauert die Trauer, ohne dass sie ausgesprochen wird. Das ist Kunst.
4. Christian Haller: «Sich lichtende Nebel» (15 Punkte)
Kopenhagen, 1925. Der junge Physiker Werner Heisenberg beobachtet zufällig, wie in einer nebligen Nacht ein Mann in den Lichtkegel einer Strassenlaterne tritt und nach wenigen Schritten im Dunkeln verschwindet, um im nächsten Lichtkegel erneut aufzutauchen.
Diese Beobachtung löst in ihm eine innere Unruhe aus. Er spürt, dass er nahe an der Lösung eines theoretischen Problems ist. Der Mann im Dunkeln hingegen ahnt nicht, dass sein nächtlicher Gang nach Hause die Quantenmechanik begründen wird.
Eine Novelle über die Unschärfen im Leben, die zu neuen Realitäten führen können.
Christian Hallers Novelle berichtet davon, wie durch eine Zufallsbegegnung die Unschärferelation entdeckt wird. Das klingt abstrakt; Hallers Personen sind jedoch keine blossen Spielfiguren, sondern werden als Individuen lebendig.
3. Sarah Jollien-Fardel: «Lieblingstochter» (27 Punkte)
Ein Dorf im Wallis. Ein Familienvater, der seine Frau und die beiden Töchter schlägt, die ältere sexuell missbraucht. Die Frauen wehren sich nicht. Das Dorf weiss, was vor sich geht. Und schweigt. Aus diesem Trauma versucht die jüngere Tochter, Jeanne, im Laufe ihres Lebens immer wieder einen Weg zu finden.
In kurzen, rhythmischen Staccato-Sätzen und mit grossem Einfühlungsvermögen wird hier das Innenleben einer Figur nach aussen gekehrt. Es zeigt auf, mit welchen Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und seelischen Verletzungen Jeanne noch Jahrzehnte nach den Ereignissen zu kämpfen hat.
Der Roman der Walliser Autorin war im letzten Jahr für den Prix Goncourt nominiert und erhielt den Prix du Roman Fnac und den Choix Goncourt de la Suisse 2022.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so perfekten Erstlingsroman gelesen zu haben. Konzentriert, dicht und sprachlich sehr sorgfältig.
2. Arno Geiger: «Das glückliche Geheimnis» (31 Punkte)
In seinem neuen autobiografischen Buch «Das glückliche Geheimnis» erzählt Arno Geiger von seinem langen Weg zur Schriftstellerei, von seinen alternden Eltern und von der grossen Liebe. Zudem verrät er darin, dass er über Jahrzehnte ein Doppelleben geführt hat: Im Geheimen streifte er regelmässig durch die Stadt und suchte in Altpapier-Containern nach Briefen und anderen persönlichen Dokumenten wildfremder Menschen.
Beeindruckend offen erzählt der Autor, wie ihm dies den Zugang zu anderen Lebenswirklichkeiten eröffnete – und ihn als Künstler inspirierte.
Arno Geiger ist mit «Das glückliche Leben» ein ergreifendes Lebensbuch gelungen. Es besticht durch eine schonungslose Offenheit, welche das Buch zu einer Hommage ans Erzählen überhaupt werden lässt.
1. Peter Stamm: «In einer dunkelblauen Stunde» (44 Punkte)
Andrea will mit ihrem Team einen Dokumentarfilm über den Schriftsteller Richard Wechsler drehen. Die Dreharbeiten in Paris sind im Kasten, aber zu den Aufnahmen an seinem Schweizer Heimatort taucht Wechsler nicht auf. Das Filmprojekt droht zu scheitern. Doch liegt nicht in jedem Scheitern ein Neuanfang?
Peter Stamm zeigt sich in seinem neuen Roman von einer ungewohnt vergnüglichen Seite. Er legt autobiografische Fährten aus und treibt so sein methodisches Wechselspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf die Spitze. Ein komplexer Roman über das Leben, mit Leichtigkeit geschrieben.
Ein brillant geschriebenes Buch, gespickt mit (Selbst-) Reflexionen über das Dasein in seiner Vielschichtigkeit und Banalität.