5. Ingeborg Bachmann, Max Frisch: «Wir haben es nicht gut gemacht.» Der Briefwechsel (24 Punkte)
Ingeborg Bachmann und Max Frisch waren eines der glamourösesten Paare der deutschsprachigen Literatur. Es war eine Liebe zwischen Bewunderung und Rivalität. Nach vier Jahren endete sie für beide schmerzlich. Dass die Trennung entgegen der bisher geltenden Meinung auch ihn fast zerstörte, zeigt der gemeinsame Briefwechsel.
Die rund 300 erstmals veröffentlichten Briefe räumen mit dem alten Gerücht auf, Frisch sei mit seinem Verhalten schuld an Bachmanns Tod. Der eigentliche Zauber dieses sorgfältig editierten Briefbands ist, wie sich beide als rückhaltlos Liebende zeigen, die alles riskieren, (fast) alles verlieren – und dafür Worte finden.
Jetzt weiss man genauer, warum diese beiden Ausnahmemenschen und Ausnahmekünstler es nicht miteinander aushielten, obwohl sie sich so geliebt hatten. Eine sprachlich beglückende, zutiefst bewegende, ja erschütternde Lektüre.
4. Annie Ernaux: «Der junge Mann» (25 Punkte)
Sie ist Mitte 50, er Mitte 20. Sie lieben sich, spazieren Hand in Hand, gehen auf Reisen, haben Spass. Er gibt ihr das Gefühl, alterslos zu sein. Doch beide wissen, eine gemeinsame Zukunft ist ihnen nicht bestimmt. Die aktuelle Nobelpreisträgerin Annie Ernaux zieht auf nur 48 Seiten alle Register ihres schriftstellerischen Könnens.
Schonungslos direkt schildert sie die Beweggründe einer ungewöhnlichen Liebe. Mit ihrer radikal autobiografischen Innensicht über ihre Beziehung zu einem viel jüngeren Mann schreibt sie gegen gesellschaftliche Konventionen an. Ein schmales Buch mit ungemeiner Wucht.
Altes Herz wird wieder jung? Lust und Frust liegen eng beieinander, wenn Annie Ernaux eine Affäre mit einem wesentlich jüngeren Mann hat, um sich ihre Vergangenheit zu vergegenwärtigen.
3. Arno Geiger: «Das glückliche Geheimnis» (26 Punkte)
In seinem neuen autobiografischen Buch «Das glückliche Geheimnis» erzählt Arno Geiger von seinem langen Weg zur Schriftstellerei, von seinen alternden Eltern und der grossen Liebe. Zudem verrät er darin, dass er über Jahrzehnte ein Doppelleben geführt hat: im Geheimen streifte er regelmässig durch die Stadt und suchte in Altpapiercontainern nach Briefen und anderen persönlichen Dokumenten wildfremder Menschen.
Beeindruckend offen erzählt der Autor, wie ihm dies den Zugang zu anderen Lebenswirklichkeiten eröffnete – und ihn als Künstler inspirierte.
Arno Geiger ist mit ‹Das glückliche Leben› ein ergreifendes Lebensbuch gelungen. Es besticht durch eine schonungslose Offenheit, welche das Buch zu einer Hommage ans Erzählen überhaupt werden lässt.
2. Mohamed Mbougar Sarr: «Die geheimste Erinnerung der Menschen» (31 Punkte)
Diégane lebt in Paris und will so berühmt werden wie sein literarisches Idol T. C. Elimane, ein senegalesischer Schriftsteller, der in den 1930er-Jahren ein Kultbuch schrieb und als «schwarzer Rimbaud» im französischen Feuilleton gefeiert wurde. Bis er spurlos verschwand.
Zufall oder Schicksal, dass Diégane in einem Strassencafé ausgerechnet jener Senegalesin begegnet, die Elimanes längst verschollen geglaubtes Kultbuch besitzt? Der Roman ist ein sprachlich virtuoser Mix aus Kriminalgeschichte, Liebesgeschichte und Bildungsroman, in dem sich der Autor kritisch mit dem 20. Jahrhundert und dem Erbe des Kolonialismus auseinandersetzt.
Ein anspruchsvolles Lesevergnügen mit wunderschönen Passagen über die Liebe, das Leben und die Suche nach Wahrheit, die die Essenz unseres Lebens ist.
1. Peter Stamm: «In einer dunkelblauen Stunde» (73 Punkte)
Andrea will mit ihrem Team einen Dokumentarfilm über den Schriftsteller Richard Wechsler drehen. Die Dreharbeiten in Paris sind im Kasten, aber zu den Aufnahmen an seinem Schweizer Heimatort taucht Wechsler nicht auf. Das Filmprojekt droht zu scheitern. Doch liegt nicht in jedem Scheitern ein Neuanfang?
Peter Stamm zeigt sich in seinem neuen Roman von einer ungewohnt vergnüglichen Seite. Er legt autobiografische Fährten aus und treibt so sein methodisches Wechselspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf die Spitze. Ein komplexer Roman, mit Leichtigkeit geschrieben.
Ein brillant geschriebenes Buch, gespickt mit (Selbst-) Reflexionen über das Dasein in seiner Vielschichtigkeit und Banalität.