Angefangen hat alles in einer Vollmondnacht in Zürich, als James Wolfensberger und sein Kumpel Oliver Stumm im Sex Kino Walche an der Limmat eine Party organisierten. Die Erinnerungen an damals sind bei James Wolfensberger noch heute lebhaft: «Es war eine wilde Nacht.»
Quer durch alle Szenen seien die Menschen gekommen. Von Punks über Skinheads bis zum Diskopublikum wollte scheinbar niemand den Abend verpassen.
Die Party geht in die Geschichte ein und wird heute als der erste, richtige Rave der Schweiz angesehen. Beflügelt von diesem Erfolg, organisiert das Duo bald weitere Partys an wechselnden Locations.
In Zürich illegal, in New York Alltag
Was Wolfensberger und Stumm machen, unterscheidet sich stark von dem, was man in Zürich bisher gekannt hat. «Zürich war damals viel provinzieller», erinnert sich Wolfensberger. Die Kinos schlossen schon um neun Uhr abends, nur gerade fünf Lokale durften länger als Mitternacht geöffnet bleiben. Deshalb mussten die ersten Partys illegal stattfinden.
Ganz anders sah es dagegen in den USA aus, wo James Wolfensberger, wie auch Oliver Stumm, zeitweise lebten. In New York habe Wolfensberger eine lebendige Underground-Szene angetroffen: Alles sei verspielter gewesen – auch die Musik.
House kommt auf
Während in der Schweiz vielerorts noch klassische Genres wie Jazz im Ausgang vorherrschen, tanzen die Menschen in den USA bereits zu House Musik. James Wolfensberger und Oliver Stumm führen das Zürcher Publikum mit importierten Platten an die neue Musik heran.
Doch auch die Art und Weise des Auflegens ändert sich an ihren Partys. Neu werden die einzelnen Tracks zu einem durchgehenden Teppich gemixt, statt jeweils nach jedem Lied eine Pause einzulegen. Mit ihren Partys wollten sie ein Gesamtkunstwerk erschaffen, sagt Wolfensberger: «Licht, Menschen, Ton und eine Stimmung kommen zusammen. Es ist eine neue Art der Oper.»
Die Partys treffen einen Nerv
Mit diesem Konzept ist das Duo Stumm-Wolfensberger zeitweise die Avantgarde des Zürcher Nachtlebens. Bei ihren Partys setzen die beiden auf Inklusion und bieten so auch marginalisierten Gruppen – etwa queeren Menschen – erstmals einen geschützten Raum in der Öffentlichkeit. Zudem etablieren sie Standards, die später im Techno aufgegriffen werden: «Viele, die später in der Technowelt gross wurden, haben es bei uns abgeschaut und später professionalisiert.»
Allerdings kann James Wolfensberger mit der neuen Musik nicht mehr viel anfangen. Er zieht sich in den 1990er-Jahren aus der Partyszene zurück und wendet sich anderen Projekten zu.
Schweiz als frühes Techno-Mekka
Die Technowelle erfasst die Schweiz Anfang der 1990er-Jahre. Dafür herrschen damals nahezu perfekte Bedingungen: Ein Rückgang der Industrie hinterlässt vielerorts leere Flächen, die sich bald mit Kultur füllen. Zudem ist die Szene dank der zentralen Lage in Europa bestens vernetzt.
Ebenfalls wichtig ist eine allgemeine Liberalisierung im Nachtleben. Während in anderen Ländern Technopartys aufgrund von Restriktionen weiterhin im Illegalen stattfinden müssen, profitiert die Schweizer Szene von längeren Öffnungszeiten.
Mittendrin ist auch Mirosch Gerber. Ab 1993 organisiert er im beschaulichen Dorf Roggwil (BE) Technopartys. Als Spielwiese dient ihm die stillgelegte Fabrik der Firma Gugelmann – der Ort, an dem er seine Lehre abgeschlossen hat.
Techno habe damals in den Zeitgeist gepasst: «Man kam vom Kalten Krieg. Möglichkeiten gingen auf, man konnte in den Osten reisen. Es herrschte ein positiver Vibe.» Techno, das sei anders gewesen, sagt Gerber. «Musikalisch ging Techno neue Wege, aber auch die Menschen verhielten sich ganz anders.»
Megaraves in der Provinz
Innerhalb kürzester Zeit kommen tausende Gäste nach Roggwil (BE); irgendwann sind es sogar über zehntausend. Die Menschen reisen von weit her: «Der weiteste, den wir identifizieren konnten, kam aus Saudi-Arabien.» Nach den Anlässen wären jeweils ein Haufen verschiedener Währungen zusammengekommen.
Mit diesem Erfolg hätten sie zu Beginn nie gerechnet, sagt Mirosch Gerber rückblickend. Es ist eine Entwicklung, die sich zeitgleich in der ganzen Schweiz abspielt: Die Tanzflächen werden zum Schmelztiegel, Vorurteile sind scheinbar verschwunden, und Menschen, die sonst nirgends einen Platz finden, können sich hier plötzlich frei entfalten. Es entsteht ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Dabei spielt auch die Droge MDMA eine Rolle, die zeitgleich mit der Musik auftaucht und die Anfangsjahre prägt.
Schnelle Kommerzialisierung
Ist Techno zu Beginn des Jahrzehnts noch neu und verspielt – in den ersten Jahren verkleiden sich beispielsweise noch viele Gäste aufwendig, bevor sie ausgehen – so ist die Musik zum Ende der 1990er-Jahre schon ein Massenphänomen. Eine Entwicklung, die Mirosch Gerber mit gemischten Gefühlen mitmacht. «Einerseits stand ich mitten in der Kommerzialisierung, andererseits begann man dann bereits den Underground zu vermissen.»
Die Partys in Roggwil (BE) werden immer mehr zum reinen Geschäft; die Balance zwischen Kommerz und künstlerischer Entfaltung ist immer schwieriger zu finden. Nach einem Brand auf dem Gugelmann-Areal in Roggwil wendet sich Gerber von der Partyszene ab. Dabei spielen verschiedene Gründe eine Rolle, wie er betont.
Techno heute
Mittlerweile ist Techno im Schweizer Ausgangsleben fest verankert: Die Zürcher Technokultur wurde gar von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt.
Doch die Szene befindet sich im Wandel. Eine neue Generation erfindet das Genre gewissermassen neu, mithilfe von Social Media. Die Gen Z kommt, paradoxerweise, während der Pandemie, als weltweit Clubs schliessen müssen, auf der Videoplattform Tiktok erstmals mit Techno in Berührung. In kurzen Videos ahmen sie das Cluberlebnis nach, daraus entsteht der sogenannte «TikTok-Techno».
Statt einem sorgfältigen Aufbau über ein lang gezogenes Set, ist diese Form des Techno auf schnelle Wechsel ausgelegt, die sich perfekt für die Weiterverbreitung auf Social Media eignen.
Ein sich wandelndes Ausgangsverhalten
Damit tun sich einige etablierte Clubs schwer, die so teilweise den Kontakt zur neuen Generation verloren haben. Hinzu kommt ein sich gewandeltes Ausgangsverhalten: Es wird mehr Wert auf einen bewussten und gesünderen Lebensstil gelegt. Durchgefeierte Clubnächte mit ausgedehnten Afterhours passen nicht mehr zu diesem Lebensentwurf.
Viele gehen heutzutage nur noch gezielt an einzelnen Abenden aus – oder nehmen an einem Day-Rave teil. Das Angebot solcher Tagespartys hat in den letzten Jahren stark zugenommen, sodass die etablierten Clubs diese Entwicklung in sinkenden Eintritten spüren.
Tanzen geht immer
Gleichzeitig ist das Ausgangsangebot so vielfältig wie nie: Strassenfeste mit Musikangebot bis spätabends im Sommer, oder Tanzbars mit freiem Eintritt im Winter, konkurrieren mit dem klassischen Cluberlebnis. Mancherorts ist daher bereits von einem Clubsterben die Rede.
Doch der klassische Musik-Club dürfte weiterhin relevant bleiben: Ausgehen, gemeinsam mit Freunden und Freundinnen zu guter Musik tanzen und eine gute Zeit verbringen, ist ein zeitloses Konzept, das auch 40 Jahre nach den ersten Anfängen in der Schweiz weiterhin funktioniert.