Tatort Alexandria, Hafenstadt am Nildelta: Eine Frau, Mitte 60, wird auf offener Strasse von einer fanatisierten Menschenmenge angefallen, verschleppt, misshandelt, gelyncht, in Stücke geschnitten und verbrannt.
Die Frau heisst Hypatia und ist in der Antike eine der herausragendsten Gelehrten Europas. Ihr Tod in der Fastenzeit des Jahres 415, allenfalls auch 416, ist Symptom für eine Kultur im Niedergang.
Alexandria, einst bekanntestes Zentrum der hellenistischen Wissenschaft und Kultur, befand sich im Umbruch. Seit Kurzem war das Christentum Staatsreligion. Hypatia aber war eine Vertreterin der antiken Tradition und gehörte zur Minderheit.
Vernunft statt Götter
Die neuere Forschung geht davon aus, dass der alexandrinische Bischof Kyrill hinter der Ermordung Hypatias steckte. Die neuen christlichen Machthaber sahen in ihrer Forschung einen Widerspruch zur Bibel. Der antike Lexikograf Hesychius vermerkte: «Sie wurde von den Alexandrinern in Stücke gerissen … vor allem wegen der Beschäftigung mit der Astronomie.»
Astronomisches Wissen kratzte rasch einmal am christlichen Weltbild. Wer Hypatia tötete, tötete daher nicht nur einen Menschen, sondern statuierte ein Exempel an einer alten, aber fortschrittlichen Kultur.
Die griechischen Wissenschaftler richteten ihre Forschung schon seit Jahrhunderten nicht mehr nach den Göttern, sondern setzten auf die Vernunft des Menschen. Das passte den neuen christlichen Machthabern nicht. Sie duldeten keinen Widerspruch zur Bibel, insbesondere zum Schöpfungsbericht.
Nichts überliefert und doch erinnert
Von Hypatia direkt ist keine einzige Zeile überliefert. Alles, was man über sie weiss, stammt von Zeitzeugen und Lexikografen. Bei den Intellektuellen ihrer Zeit war Hypatia hoch angesehen.
Sie unterrichtete Schüler, die von weit her nach Alexandria reisten. Hypatia verband mathematische Disziplinen mit der Philosophie. Sie arbeitete zu Kegelschnitten, verfasste Kommentare zu wissenschaftlichen Klassikern und baute astronomische Instrumente.
Sie hatte auch das Wissen über den Kalender. Sie wusste, wie man das schnelle Mondjahr und das gemächlichere Sonnenjahr mit Schalttagen im Kalender übereinbringt. Das ist eine hohe Kunst. Ausgerechnet eine Anhängerin des untergehenden griechischen Götterglaubens konnte also für die Christen den korrekten Ostertermin berechnen, der sich nach dem Mond richtet.
Selbstbewusst und resolut
Zu Hypatias Person sind nur Bruchstücke überliefert, allerdings sehr interessante. Hypatia stammte aus einer Gelehrtenfamilie. Zur damaligen Zeit wurde Wissen in den Familien weitergegeben wie das Handwerk in einem Familienbetrieb. Ihren Vater Theos, angesehener Geometer und Philosoph, übertraf sie bald an Wissen.
Hypatia blieb unverheiratet. Sie war selbstbewusst und offenbar auch resolut und impulsiv. Eine Anekdote handelt von einem Streit mit einem ihrer Schüler, der sich in sie verliebt hatte. Hypatia wurde unwirsch, weil dieser das Konzept des Eros überhaupt nicht begriffen habe. In ihrem Ärger soll sie ihm kurzerhand eine Monatsbinde an den Kopf geworfen haben.