Am 18. Juni könnte es in der Schweiz zu einer Premiere kommen. Die Zürcherinnen und Winterthurer entscheiden über einen Mindestlohn in ihren Städten. Bei einem Ja wären die Gemeinden schweizweite Vorreiter. Bis jetzt gibt es einen Mindestlohn nur in Grenzkantonen – beispielsweise in Neuenburg, im Jura oder in Basel und Genf.
Die beiden Vorlagen in Zürich und Winterthur sind ähnlich. Wer in der Stadt Zürich arbeitet, soll mindestens 23.90 Franken pro Stunde verdienen. Arbeitnehmer mit einem Vollzeitpensum würden so rund 4000 Franken pro Monat erhalten. In Winterthur entscheidet das Stimmvolk über einen Mindestlohn von 23 Franken pro Stunde.
Ein Mindestlohn zur Existenzsicherung
In Zürich und Winterthur stehen linke Parteien und Gewerkschaften hinter der Idee eines Mindestlohns. Sie wollen damit die Armut bekämpfen. Im Fokus stehen Menschen, die trotz eines 100-Prozent-Jobs kein existenzsicherndes Einkommen haben. Momentan verdienen rund 3600 Winterthurerinnen weniger als 4000 Franken monatlich, in Zürich sind es 17'000 Personen.
«Mit einem solchen Einkommen kommt man schwer über die Runden», sagt die Stadtzürcher Gemeinderätin Fanny de Weck (SP). «Jetzt entscheiden wir über einen Lohn, mit dem man die Existenz sichern kann.» Profitieren würden hauptsächlich Angestellte in Branchen wie dem Detailhandel, der Reinigung oder der Gastronomie. Die meisten von ihnen sind Frauen.
Aus Sicht der bürgerlichen Gegner verfehlt der Mindestlohn jedoch sein Ziel. Sie stützen sich auf eine Schätzung der ETH Zürich: Nur sieben Prozent der von Armut betroffenen Personen würde ein Mindestlohn etwas nützen. Die meisten einkommensschwachen Personen würden nämlich nicht, oder nur wenig arbeiten.
Die Stadtzürcher Gemeinderätin Mélissa Dufournet (FDP) bringt zudem die individuellen Lebensverhältnisse ins Spiel. «Der Stundenlohn allein lässt nicht darauf schliessen, in welcher finanziellen Situation sich jemand befindet.» Als Beispiel nennt sie einen Studenten, der noch bei seinen gut situierten Eltern lebt. Ein gesetzlich vorgeschriebener Mindestlohn sei deshalb der falsche Weg.
Gegner warnen vor «Mindestlohn-Insel»
Die Gegnerinnen taxieren den Mindestlohn ausserdem als gefährliches Experiment. Die Städte würden zu «Mindestlohn-Inseln», warnen sie. Arbeitgeber wälzten die höheren Lohnkosten auf die Konsumentinnen ab. Und Arbeitsplätze würden in die Agglomeration verlagert.
Die Befürworter hingegen sprechen von positiven Effekten für die Wirtschaft. Arbeitsplätze seien nicht gefährdet. Der Zürcher Stadtrat verweist auf die internationale Forschung rund um Mindestlöhne. Ein Grossteil der Studien sehe keine oder nur geringe Auswirkungen auf die Zahl der Arbeitsplätze.
Kloten hat Mindestlohn verworfen
Dass Zürich und Winterthur gleichzeitig über den Mindestlohn abstimmen, ist kein Zufall. 2014 hat das Schweizer Stimmvolk einen nationalen Mindestlohn verworfen. Linke Parteien und Gewerkschaften kämpften in den Kantonen weiter für ihr Anliegen. Sie lancierten auch in Zürich, Winterthur und Kloten eine Mindestlohn-Initiative mit einem Ansatz von 23 Franken pro Stunde.
In Kloten ist dieses Anliegen 2021 an der Urne gescheitert. Nun entscheidet Winterthur über die Initiative «Für einen Lohn zum Leben». In Zürich kommt ein Gegenvorschlag mit einem etwas höheren Mindestlohn vors Volk.