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Journalist Maher Akraa «Über Hama hinaus werden die Rebellen nicht vorstossen können»

Innert kurzer Zeit haben islamistische Rebellen weite Teile Syriens besetzt. Ein syrischer Journalist, der in der Schweiz lebt, zweifelt aber daran, dass die Rebellen stark genug sind, um weiter in Richtung der Hauptstadt Damaskus vorzustossen.

Maher breitet seine Arme aus: «Was bleibt für die Syrer? Von welchen Soldaten werden sie beherrscht? Türken? Iranern? Russen? Amerikanern? Von der Regierung? Heute ist Syrien ein Land, das mindestens in drei Gebiete geteilt ist.» Maher Akraa, 35, floh 2012 aus seiner Heimatstadt Aleppo. «Das Regime betrachtete jeden, der eine andere Meinung hatte, als Terroristen», erinnert er sich. Auch ihn.

Seine Familie lebt immer noch in Aleppo. Die Stadt steht auf einmal wieder im Mittelpunkt des Bürgerkriegs in Syrien. Maher beobachtet sein Land jetzt von der Schweiz aus, wo er seit Jahren lebt. «Warum haben sich die syrischen Streitkräfte so schnell aus Aleppo zurückgezogen? Und wie ist es den Rebellen gelungen, so schnell vorzurücken? Fragen, die noch unbeantwortet sind», sagt Maher gegenüber dem Radio und Fernsehen der italienischen Schweiz (RSI).

Der syrische Journalist zeigt auf die Karte mit den verschiedenen Gebieten des Landes: drei Farben, aber mindestens fünf beteiligte Länder, Milizen mit unterschiedlichen Absichten. Die Kurden, die von den USA unterstützt werden. Die Türkei unterstützt sunnitische anti-kurdische Gruppen, Iran das Regime von Staatschef Assad. Russland ist der Pate des Assad-Regimes. Und dann sind da noch die Drohnen islamistischer Rebellen, die vielleicht mithilfe der Ukraine oder auf jeden Fall der Türken hergestellt wurden. Das Ergebnis ist eine gewaltige Überschneidung von Interessen, die auf dem Spiel stehen.

Umsiedlung im Gang

Der einzige gemeinsame Nenner dieses seit 13 Jahren andauernden Konflikts ist das Leid der Zivilbevölkerung. Maher Akraa erklärt, dass eine demografische Neudefinition im Gang sei, bei der Zivilisten von einem Gebiet in andere umgesiedelt würden. Und die jüngsten Kämpfe brächten neues Leid. «Meine Mutter hat mir gesagt, dass es in Aleppo keinen sicheren Ort gibt», berichtet er. Die Stadt werde von den Russen bombardiert.

Putins Soldaten bombardierten die Stellungen der Rebellen: ein Kaleidoskop von Milizen, die von den selbsternannten «Ex-Jihadisten» von Hay'at Tahrir al-Sham (HTS, Komitee zur Befreiung der Levante) angeführt werden. Diese Qaida-Gruppen versuchen, ihr Image neu zu gestalten: weniger aggressiv und scheinbar toleranter. Es gibt von den gerade eroberten Gebieten in Aleppo Maher zufolge bisher keine Nachrichten über willkürliche Gewalt gegen die Bevölkerung.

Aber die Angst vor diesen Rebellen sei nach wie vor gross, betont Maher. «Die Menschen erinnern sich daran, was in Raqqa und anderswo in Syrien während der Zeit des Islamischen Staats passiert ist.»

Was es jetzt brauche, sei eine politische Lösung. «Über Hama hinaus werden die Rebellen nicht vorstossen können, weil es nur wenige von ihnen gibt», meint Maher. «Assad muss gehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass er chemische Waffen gegen Syrer eingesetzt hat.» In Aleppo sei niemand glücklich darüber, unter der Herrschaft der Rebellen zu stehen, auch wenn viele von ihnen tatsächlich aus dieser Gegend stammten.

Die einzige paradoxe Gewissheit im von Regierungstruppen «befreiten» Aleppo sind darum im Moment die Umarmungen zwischen getrennten Familien. «In den sozialen Medien habe ich viele Bilder von Familien gesehen und verifiziert, die sich nach Jahren wieder zusammengefunden haben», sagt Maher.

Echo der Zeit, 5.12.24, 18:00 Uhr

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