In der Nacht vom 29. Juni 2024 trat die Rhone in Siders über die Ufer. Sie überschwemmte das Wohnviertel Sous-Géronde und verwüstete eine Fabrik, in der Aluminium produziert wurde. Wie durch ein Wunder kamen keine Menschen ums Leben. Aber das Leben von Dutzenden Familien wurde auf den Kopf gestellt. Mitten in der Nacht mussten sie ihre Häuser verlassen. Sie werden nie wieder zurückkehren können.
Hochwasser der Rhone waren fürs ganze Wallis schon immer eine Gefahr. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden gigantische Bauarbeiten durchgeführt, um den Fluss einzudämmen. Mit der dritten Rhone-Korrektion änderte sich ab Anfang der 2000er der Ansatz grundlegend. Nicht mehr die Kanalisierung stand im Vordergrund, sondern die Verbreiterung des Flussbetts. Man wollte der Rhone mehr Land überlassen, damit Fluten besser absorbiert werden können.
Das Projekt ist gigantisch – sein Budget wird 3.4 Milliarden Franken betragen – und soll sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken. In den am stärksten gefährdeten Abschnitten waren Sofortmassnahmen vorgesehen: in Siders und in Visp.
Lokale Widerstände, Interessenkonflikte und Budgetzwänge verzögerten die Umsetzung des Projekts jedoch bald. Während in Visp die Sofortmassnahmen in Angriff genommen wurden, passierte in Siders nichts, obwohl dort der Abschnitt liegt, der als der gefährlichste gilt. Das Flussbett ist hier sehr eng, umgeben von Industriegebäuden, Häusern, sehr niedrigen Brücken und einer Klippe.
Denkmalschutz als Hindernis
Im Jahr 2021 übernahm der frisch in den Staatsrat gewählte Oberwalliser SVP-Mann Franz Ruppen das Dossier – mit der klaren Absicht, das «Jahrhundertprojekt» zu redimensionieren. Die Regierung gab eine umfassende Analyse in Auftrag. Die kam im vergangenen Mai zum Schluss, dass das Hochwasserrisiko überschätzt und das ganze Vorhaben unverhältnismässig sei. Gegnerinnen und Gegner der dritten Rhone-Korrektion reagierten erfreut.
Einen Monat später verwüstete das Rhone-Hochwasser das Quartier Sous-Géronde. «Das Gebiet von Siders war als Risikogebiet mit prioritären Massnahmen identifiziert worden. Wenn Massnahmen ergriffen worden wären, wäre die Überschwemmung sicherlich erheblich reduziert worden», bedauert Serge Gaudin, Direktor des Unternehmens Novelis, das Aluminiumbleche für hochwertige Automarken herstellt.
Die Produktion in seiner Fabrik stand über zwei Monate lang still, mit katastrophalen Folgen. Für den deutschen Autohersteller Porsche, der die Bleche für seine Produktion ausschliesslich aus Siders bezieht, habe der Stillstand der Fabrik einen Verlust von einer Milliarde Euro bedeutet – was 17'000 nicht produzierten Fahrzeugen entsprochen habe.
Das Drama von Sous-Géronde zeigt die Lücken eines Systems auf, das in politischen und administrativen Streitereien steckt. Die unter Denkmalschutz stehende Eisenbahnbrücke wurde zu einem natürlichen Damm, der die Überschwemmung begünstigte. Häuser, die ins Rhone-Bett gebaut sind und unter Denkmalschutz stehen, verhinderten die notwendige Verbreiterung des Flusses.
Das Walliser Parlament hat im Herbst eine Untersuchungskommission eingesetzt. Sie soll Licht in die Ursachen der Katastrophe bringen – und in die Verantwortlichkeiten.