Auf den ersten Blick ist es der Traum aller Studierender: Man darf Vorlesungen besuchen, ohne Druck, am Schluss eine gute Note abliefern zu müssen. Für den Masterstudiengang an der medizinischen Fakultät der Universität Freiburg gilt seit 2019 ein solches Modell. Die Absenz von Noten bedeutet aber nicht, dass es keine Beurteilungen mehr gibt. Ein Scheitern ist also immer noch möglich.
Zum Jahresende wird jeweils ein Bericht über die verschiedenen Kompetenzbereiche der angehenden Ärztinnen und Ärzte erstellt. Er beinhaltet auch theoretische und praktische Prüfungen. Diese Prüfungen geben nur Aufschluss über die erreichte Punktzahl und die Position eines Studierenden im Vergleich zum Rest der Klasse, ohne dass Noten vergeben werden.
«Die Noten haben den negativen Effekt, dass sie die Studierenden dazu zu bringen, ihnen mehr Bedeutung beizumessen als dem Inhalt», sagt Raphaël Bonvin, Vizedekan der medizinischen Ausbildung in Freiburg und der Leiter des Programms, gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS). Die Abschaffung der Noten ziele darauf ab, dass sich die Energie nicht mehr auf das Bestehen der einzelnen Prüfungen konzentriere, sondern darauf, die Studierenden «auf ihre zukünftige Karriere als Ärzte vorzubereiten», fügt er hinzu.
Die Resultate stimmen
Eine wichtige Rolle spielt in dem Modell die Selbsteinschätzung der Studierenden. Das sei nicht einfach eine Übung, in der man betone, wie toll man sei, sagt Vincent Fournier, ein Student im ersten Studienjahr. «Es geht vor allem darum, sich selbst zu hinterfragen. Wenn man behauptet, etwas besonders gut zu können und beim Praktikum dann nicht den Beweis dafür erbringt, kommt das schnell ans Licht.»
Die Lehrmethode der Universität Freiburg zahlt sich aus. Bei der eidgenössischen Medizin-Prüfung 2022 zeichneten sich die Absolventinnen und Absolventen durch ihre praktischen Fähigkeiten aus und belegten den ersten Platz. In der Theorie belegten sie den zweiten Platz. 2023 und 2024 schnitten sie ähnlich gut ab.
«Ich glaube, unsere Schüler arbeiten härter als andere», betont Bonvin. «Das Notensystem fördert die Einstellung, dass man nur den Notenschnitt erreichen muss, um weitermachen zu können. Durch die Abschaffung der Noten rückt das Ziel in den Vordergrund, ein guter Arzt zu werden.»
Ziehen andere nach?
Bislang ist keine andere Universität in der Schweiz dem Beispiel Freiburgs gefolgt und hat die Noten abgeschafft. Doch diese Erfolgsgeschichte weckt Interesse. Die Berner Fachhochschule arbeitet derzeit an einer Überarbeitung ihres Bewertungssystems.
Auch die Universität Genf beobachtet genau, was in Freiburg getan wird. Für Mathieu Nendaz, Vizedekan der medizinischen Fakultät der Universität Genf, wäre die Abschaffung der Noten zwar eine grosse Herausforderung, die einen Kulturwandel erfordern würde. Er ist jedoch der Meinung, dass dies möglich wäre.
Raphaël Pasquini von der Pädagogischen Hochschule des Kantons Waadt warnt jedoch davor, dieses System zu verallgemeinern. Seiner Meinung nach kann eine Beurteilung ohne Noten «eine andere Form der Angst hervorrufen», nämlich die, welche Wert man hat und wie man sich künftig auf dem Arbeitsmarkt positionieren kann.