Eine junge Frau zeigt ihren Vater wegen sexuellen Missbrauchs an – nach nur wenigen Wochen Therapie. In den folgenden Sitzungen werden ihre Erinnerungen vermeintlich immer klarer.
Allerdings auch grotesker: Er soll auch eine Serviceangestellte nicht nur vergewaltigt, sondern gar an die Wand genagelt, ermordet, zerstückelt und Teile der Leiche auf einem Spielplatz vergraben haben. Er, seine Frau und die beiden damals vierjährigen Mädchen hätten von dem Menschenfleisch gegessen.
Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Es handle sich um einen Fall von falschen, möglicherweise durch die Therapie ausgelösten Erinnerungen. Der forensische Psychiater Frank Urbaniok ordnet ein.
SRF News: Frank Urbaniok, im Rahmen einer Psychotherapie bezichtigen Zwillingsschwestern ihren Vater schlimmster Verbrechen. Beweise gab und gibt es nicht. Der Vater wird letztlich in allen angezeigten Fällen freigesprochen. Was ist da passiert?
Frank Urbaniok: Ich habe die anonymisierten Therapieberichte jener Schwester einsehen können, die zuerst die Missbrauchsanschuldigungen erhoben hat. Und ich bin zum Schluss gekommen: Es riecht nach Fehlbehandlung.
Wieso?
Als Erstes fällt auf, dass die Therapeutin sehr schnell eine Diagnose zur Hand hat, obwohl die beschriebenen Symptome eher unspezifisch sind. Sie kommt zum Schluss, es handle sich um eine komplexe Traumafolgestörung. Wenn sie nun davon ausgeht, dass eine Traumafolgestörung vorliegt, muss natürlich das Trauma gefunden werden.
Ist das ein bekanntes Muster?
Tatsächlich konnte in Studien gezeigt werden, dass Personen, die Falschbeschuldigungen erhoben, zu diesem Zeitpunkt in über 70 Prozent der Fälle in einer Therapie waren. Im Gros dieser Fälle wurden die falschen Erinnerungen dort erst ausgelöst oder zumindest ausgeweitet.
Die Patientin muss die Diagnose schliesslich erfüllen.
Genau. Für viele ist es eine Erlösung, eine Diagnose zu erhalten. Patienten gehen gemeinhin davon aus, dass die Fachperson weiss, wovon sie spricht. Sie sind froh, eine Erklärung für ihre Probleme erhalten zu haben. Die Patientin wird sich also Mühe geben.
Die Interaktion zwischen Patient und Therapeutin ist ein starker Trigger.
Es wird gemeinsam gegrübelt: «Da war doch etwas, erinnern Sie sich! Auch wenn die Bilder unklar sind …» Diese Interaktion zwischen Patient und Therapeutin ist ein starker Trigger, mit dem falsche Erinnerungen passend zu den Gefühlen geschaffen werden.
Das angebliche Trauma verfestigt sich, es wird sozusagen zu einem identitätsstiftenden Narrativ. Die Erinnerungen werden Teil der eigenen Identität.
Ist das auch in diesem Fall passiert?
Ja. Es fällt auf, dass die Patientin die horrenden Anschuldigungen erst erhoben hat, nachdem sie in Therapie gewesen war. Je länger die Behandlung dauerte, desto krasser und unrealistischer wurden die Bilder.
Einen Mord mitansehen und Menschenfleisch essen – das ist ein extrem unwahrscheinliches Szenario.
Schliesslich begann sie zu glauben, sie sei jahrelang vergewaltigt worden, habe einen entsetzlichen Mord mitangesehen und sogar Menschenfleisch gegessen. Und die Grossmutter soll den Vater noch angefeuert haben. Ein extrem unwahrscheinliches Szenario.
Eine schreckliche Vorstellung, zu glauben, man habe das alles erlebt.
Absolut. Die Fehlbehandlung hat sie tatsächlich nicht nur von der Realität entfernt, sondern ihr auch entsetzliches Leid zugefügt. Solche Patienten sind nicht vor, sondern nach der Therapie traumatisiert.
Psychisch versehrte Menschen werden also zusätzlich zu Opfern ihrer Therapie?
Ja. Und nicht nur sie. Auch die Angehörigen werden zu Opfern solcher fehlgeleiteter Psychotherapien. Falsche Erinnerungen zerstören Familien, wie es auch in diesem Fall geschehen ist.
Wie kommt man aus solchen falschen Erinnerungen wieder raus?
Nur sehr schwer, da sie eben zu einem Teil der eigenen Identität werden. Und weil die Therapeutin, zu der man ja grösstes Vertrauen hat, an ihrer Diagnose und damit am Narrativ festhält.
Man kann sich durch professionelle Therapeutinnen von falschen Erinnerungen distanzieren, die diese behutsam infrage stellen.
Die Personen, die sich irgendwann davon distanzieren können, schaffen es meist nur durch professionelle Hilfe. Also durch andere Therapeuten und Therapeutinnen, die diese falschen Erinnerungen behutsam infrage stellen und auf die Mechanismen, wie es so weit kommen konnte, hinweisen.
Insgesamt dauerte es über vier Jahre, bis der Vater vollumfänglich rehabilitiert wurde. Das ist eine lange Zeit.
Mein Eindruck ist, dass die Justiz die Problematik von Falschbeschuldigungen und Falschtherapien lange Zeit zu wenig auf der Rechnung hatte. Es braucht unbedingt eine Sensibilisierung dafür, dass auch falsch beschuldigte Menschen Opfer sind. Und dass solche Verfahren nicht unnötig in die Länge gezogen werden.
Besteht nicht die Gefahr, dass echten Missbrauchsopfern jetzt wieder weniger geglaubt wird?
Doch. Zusätzlich verheerend an solch fehlgeleiteten Therapien ist, dass sie indirekt echte Opfer in Misskredit bringen.
Das Gespräch führten Stephan Rathgeb (SRF) und Andrea Haefely (Beobachter).