Ein idyllisches Ausflugsrestaurant im Appenzellerland. In Gehegen hüpfen Zicklein, knabbern Zwergponys an frischem Heu. Der Spielplatz lässt keine Kinderwünsche offen.
Niemand käme auf die Idee, dass in der Beiz Menschenfleisch gegessen worden sei. Oder dort, am Ende der Rutschbahn, eine Leiche vergraben sein könnte. Ausser den Zwillingstöchtern des Wirte-Ehepaars. Ihre Namen sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.
Alles begann mit der Therapie
Man könnte diese Gruselstory nun einfach als das abtun, was sie erwiesenermassen ist: ein Hirngespinst. Hätte sie nicht ganz real ihre Opfer gefordert. Und über Jahre Polizei und Justiz beschäftigt.
Es war, als hätte mir jemand mit dem Metallhammer auf den Kopf geschlagen.
Angefangen hat der Horror im Zuge einer Psychotherapie. Bettina, eine der beiden Zwillingsschwestern, nahm sie Ende November 2019 in Angriff. Die behandelnde Psychologin stellte bereits zu Therapiebeginn eine schwerwiegende Diagnose für ihre Patientin: «Unter Berücksichtigung der anamnestischen Angaben sowie des Psychostatus zeigt sich das Bild einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-11.»
Anzeige nach acht Wochen
Nur acht Wochen später zeigte die junge Frau ihren Vater bei der Kantonspolizei wegen sexuellen Missbrauchs in acht Fällen an. Nicht nur sie, auch ihre Zwillingsschwester, die anderen beiden Schwestern sowie die Enkelin hätten Übergriffe erlebt. Die Ursache für Bettinas Trauma schien gefunden.
«Es war, als hätte mir jemand mit dem Metallhammer auf den Kopf geschlagen», sagt Vater Chläus, der Wirt. «Es hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen.»
Bettina behauptete zudem, ihre Mutter sei jeweils dabei gewesen, habe alles gewusst. «Das ist solch ein ungeheuerlicher Vorwurf, als wär ich ein Monster. Ich hätte meinen Mann sofort verlassen, wenn so etwas jemals vorgefallen wäre», sagt die Wirtin.
Stundenlange Verhöre bei der Polizei
Vater, Mutter, die weiteren Geschwister und der Schwiegersohn wurden stundenlang einvernommen, die Eltern mussten alle möglichen Fragen zu ihrem Sexualleben beantworten. Alle dementierten die unterstellten Vorkommnisse, auch Belinda, die Zwillingsschwester von Bettina, die laut Anzeige ebenfalls ein Opfer gewesen sein soll.
Zuerst habe sie der Schwester geglaubt, was sie jetzt bereue, sagte Belinda bei der Polizei aus. Es müsse sich um falsche Erinnerungen handeln, die durch Bettinas Psychotherapie hervorgerufen worden seien, gab sie damals zu Protokoll: «Die Vorwürfe sind absurd.» Mit der Aussage gegen ihre Schwester erlitt die symbiotische Beziehung der beiden Zwillinge einen tiefen Bruch.
Ein kompletter Freispruch für den Vater
Ein Dreivierteljahr später wollte die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen, die Untersuchungen hatten nichts zutage gebracht. Bettinas Anwältin wehrte sich jedoch dagegen, es folgten weitere Einvernahmen und Ermittlungen. Und schliesslich eine Anklage beim Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden.
Belinda hatte sich in der Zwischenzeit ihrer Schwester wieder angenähert – und ihren Ehemann und ihre drei Kinder verlassen. Wenige Tage vor der Verhandlung zog sie ihre Aussagen zurück. Sie habe damals bei der Polizei gelogen. Vater Chläus wurde aber am 15. September 2021 in allen Punkten freigesprochen.
Grossvater soll «Inzestkind» getötet haben
Damit gaben sich die Zwillinge nicht zufrieden: Sie verfassten einen handgeschriebenen Brief, den sie an Familienangehörige, Nachbarn und Bekannte verteilten. Darin behaupteten sie, schon ihr Grossvater habe seine Tochter vergewaltigt und mit ihr das behinderte «Inzestkind» Jakob gezeugt.
Er habe es dann, als es zwei Jahre alt war, mit einem Taschentuch erstickt und unter einer Linde vergraben. Zudem hätten die Grosseltern Flüchtlingskinder im Keller verhungern lassen. Dann folgen detaillierte Schilderungen der angeblichen Vergewaltigungen durch ihren Vater.
Schilderungen wie ein Splattermovie
Anfang Mai 2022 wird die nächste Anzeige wegen Missbrauchs und Vergewaltigung eingereicht. Diesmal durch Belinda. Zwei Wochen später stehen die Zwillinge erneut auf dem Polizeiposten und zeigen ihren Vater wegen Mordes an. Das vermeintliche Opfer: eine Kellnerin namens Ricarda.
Das Protokoll der anschliessenden Einvernahme liest sich wie das Drehbuch eines Splattermovies: Zu Silvester 1992, an seinem 40. Geburtstag, soll der Vater die Kellnerin erst vergewaltigt, sie dann in den Keller des Restaurants gejagt, «wie Jesus mit gespreizten Beinen» an die Wand genagelt, mit einem Strick um den Hals aufgehängt, ihr mit einem Hackbeil den Kopf abgeschlagen haben.
Leichenteile als Familienmahl
Die Zwillinge, damals vier Jahre alt, hätten alles mitangesehen. Ebenso dabei gewesen seien ihre Mutter und die Grossmutter, die den Vater angefeuert und ihm geholfen habe, die Leiche zu zersägen. Dann hätten alle von der Leiche gegessen. Als Vater und Mutter sich übergeben hätten, habe die Grossmutter gesagt: «Müend eu nöd überfrässe, het für alli gnueg.»
Laut Einvernahme habe der Vater die zerhackte Leiche schliesslich teils im Ofen verbrannt, teils beim Spielplatz des Restaurants vergraben. Den Kopf habe er aufbewahrt, ihn auf einen Stecken gesteckt, daraus eine Puppe gebastelt und mit ihr Shows vor den Gästen gemacht. Die Puppe liege noch immer auf dem Estrich des Restaurants.
Staatsanwaltschaft wollte Einsicht in Psychiatrieakten
Aufgrund dieser Schilderungen gab die Staatsanwaltschaft eine aussagepsychologische Einschätzung von Belinda in Auftrag. Sie verlangte auch Einsicht in die psychiatrischen Krankenakten der Zwillingsschwestern sowie die Unterlagen der Kesb. Letztere hatte Belinda inzwischen die Obhut über ihre drei Kinder entzogen und ihrem Mann übertragen.
Ich wache jeden Morgen mit Gedanken an meine beiden verlorenen Töchter auf. Und hoffe, dass sie zu Sinnen kommen.
Die Staatsanwaltschaft kommt «nach eingehender Analyse» nach rund eineinhalb Jahren zum Schluss, dass die Aussagen der beiden Zwillingsschwestern «keine Qualität aufweisen, welche die Annahme rechtfertigt, dass sie einem wirklich Erlebten entsprechen und wahr sind».
Die Aussagen von Belinda würden vielmehr auf Suggestionseffekten durch die Aussagen ihrer Schwester beruhen. Zudem hätten die Ermittlungen keine Indizien, geschweige denn Beweise zutage gebracht. Am 6. Februar 2024 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren «in Ermangelung eines Tatverdachts» ein. Chläus ist nach vier Jahren endlich rehabilitiert. Zumindest juristisch.
Der Bruch, der durch die Familie geht, bleibt. Anita, die Mutter der Zwillinge, ringt beim Gespräch am Esstisch um Fassung. Seit drei Jahren habe sie die beiden nicht mehr gesehen. 36 Jahre alt sind sie inzwischen. «Ich wache jeden Morgen mit Gedanken an meine beiden verlorenen Töchter auf. Und hoffe, dass sie zu Sinnen kommen. Ich liebe sie doch immer noch.» So sieht es auch Chläus, der Vater: «Unsere Tür wird immer offen bleiben für die beiden.»
Therapie mit Verschwörungstheorie?
Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Die Eltern und ihr Schwiegersohn Stephan, der Ex-Mann von Belinda, sind sich sicher: Auslöser war die Psychotherapie von Bettina. Dort seien diese falschen Erinnerungen in ihrer Tochter hervorgerufen worden – mitsamt ihren deutlichen Anlehnungen an satanistische Rituale.
Dieser Fall schmeckt nach Fehlbehandlung – auch wenn Satanismus in den Berichten nicht genannt wird.
Ein naheliegender Gedanke. Zu Beginn der Therapie hatte die Patientin den Missbrauch noch verneint. So steht es in der Therapieakte. Tatsächlich glauben gewisse Therapeuten, dass vermeintliche Satanisten Menschen aufs Übelste missbrauchen und sogar töten. Diese Verschwörungstheorie heisst in Fachkreisen «Satanic Panic». Sie machte sich in den vergangenen Jahren auch in mehreren psychiatrischen Kliniken der Schweiz breit. Etwa im Psychiatriezentrum Münsingen oder in der psychiatrischen Klinik Littenheid.
Satanic Panic in Schweizer Kliniken
Ein 400-seitiger Untersuchungsbericht über Letztere hat zutage gefördert, dass dort von 2015 bis 2022 bei über 200 Patientinnen und Patienten satanistische Verschwörungserzählungen in die Behandlung eingeflossen sind. Solche Vorstellungen seien «über alle beteiligten Berufsgruppen und Hierarchiestufen hinweg vorhanden gewesen und über Jahre perpetuiert worden».
Ist das auch im Appenzeller Fall passiert? Der forensische Psychiater Frank Urbaniok, dem die Therapieberichte von Bettina anonymisiert vorliegen, ordnet ein: «Dieser Fall schmeckt nach Fehlbehandlung – auch wenn Satanismus in den Berichten nicht genannt wird.»
Die Vorstellung erlebter sexueller Gewalt, die die Patientin anfangs ablehnte, habe sich im Lauf der Therapie nach und nach nicht nur festgesetzt, sondern massiv verschlimmert. «Wenn man die Weiterentwicklung der Patientin sieht, erkennt man, dass die Therapie kein Weg in die Realität gewesen ist, sondern ein Weg weiter aus der Realität heraus.»
Steigerung bis zum Horrorszenario
Tatsächlich tauchten mit praktisch jeder Therapiestunde mehr vermeintliche Erinnerungen und immer grässlichere Details im Kopf von Bettina auf. So dokumentiert es die Therapieakte. Nach und nach formte sich daraus das grausige, satanistisch gefärbte Horrorszenario.
Die Beurteilung des Wahrheitsgehalts von Aussagen obliegt einzig dem Gericht.
Hat Bettinas Therapeutin diesen Erzählungen Glauben geschenkt? Aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht will sie zum Fall keine Aussage machen. Sie sagt aber auf Anfrage: «Als Psychotherapeutin begegne ich Gewaltschilderungen von Patienten weder mit Verleugnung, noch schenke ich Berichtetem unkritisch Glauben.»
«Zur Einordnung wäge ich fortlaufend verschiedene Hypothesen ab und bin stets sehr darauf bedacht, suggestive Fragetechniken gänzlich zu vermeiden», so die Therapeutin. «Die Beurteilung des Wahrheitsgehalts von Aussagen obliegt aber einzig dem Gericht und fällt nicht in den Kompetenzbereich von Psychotherapeuten.»
Eltern bleiben trauernd zurück
Beim zuständigen Gesundheitsdepartement heisst es auf Anfrage: «Grundsätzlich kann einer Psychotherapeutin bei einem schweren Verstoss gegen die Berufspflichten die Berufsausübung verboten werden. Aufsichts- oder Disziplinarverfahren können im Kanton St. Gallen beim Gesundheitsdepartement eingereicht werden.»
Die Zwillinge verzichteten gegenüber dem Beobachter auf eine Stellungnahme. Chläus und Anita trauern derweil um ihre verlorenen Töchter.
Hinweis: Diese Recherche entstand in einer Zusammenarbeit von SRF und dem Beobachter.