Mittagszeit – eine Mutter jongliert mit Töpfen und Tellern zwischen dreckigem Geschirr und Grünabfällen. Ihre Kinder streiten sich im Nebenzimmer: schreien, poltern. Eigentlich sollten sie ihre Aufgaben erledigen. Dreimal hatte sie die Kinder bereits ermahnt. Ihr Herz rast vor Wut. Sie lässt alles liegen, stürmt ins Kinderzimmer – und rastet aus.
So beschreibt Laura, dreifache Mutter, wie es dazu kam, dass sie ihre Kinder geschlagen hat. «Ich habe sie an den Armen gepackt, gerissen, am Kragen genommen und geschüttelt. Ich habe sie auf den Hintern geschlagen», erzählt sie gegenüber der «Rundschau». «Auf den Hintern geben», klinge so harmlos. «Das ist es nicht. Man hebt die Hand und man schlägt», sagt sie.
Gewalt in der Erziehung kommt häufig vor. In einer Studie der Universität Freiburg geben 38 Prozent der befragten Eltern an, ihr Kind schon einmal geschlagen zu haben. 6 Prozent tun es regelmässig. Die grosse Mehrheit ist sich bewusst, dass diese Handlungen problematisch sind. Doch Gewalt in der Erziehung gilt als ein gesellschaftliches Tabuthema.
Laura traute sich bislang nicht, sich Freunden oder Verwandten anzuvertrauen. «Ich dachte lange, dass ich die Einzige bin, die es nicht hinkriegt.» Sie schämt sich, weil sie Gewalt ablehnt. «Eines Tages hob ich die Hand und mein Kind machte eine Geste, um den Schlag abzuwehren. Da war mir plötzlich glasklar, was ich tat. Es fühlte sich an wie ein Stich ins Herz», erzählt sie. Laura holte sich Hilfe, begann eine Therapie – und bekam ihr Erziehungsverhalten in den Griff.
Häusliche Gewalt, egal ob physisch oder psychisch, ist strafbar. Als psychische Gewalt bezeichnet man etwa Erniedrigungen, Drohungen, ein bewusstes Verletzen mit Worten. Sie ist oft genauso schädlich, kommt aber in jeder fünften Familie regelmässig vor.
Sonja Graber verletzte ihre Tochter Kuri mit Worten wie: «Wegen dir müssen wir so viel leiden, du bist an unserem Unglück schuld.» «Das sind Sätze, die aus einem Frust und Stress entstanden sind», sagt sie. «Das sind Sätze, die für immer im Kopf bleiben», fügt ihre Tochter an.
Familie Graber ging damals durch eine schwierige Zeit. Die Eltern trennten sich, der Vater zog aus. Mutter Sonja – mit drei Kindern, Job und Gefühlen allein. Sie zieht sich zurück. Tochter Kuri – nach der Trennung verzweifelt.
Sie stritten sich immer häufiger. «Ich habe mich nicht gehört gefühlt. Manchmal bin ich ausgerastet, habe rumgeschrien und Sachen kaputt gemacht. Ich wollte auf meine Probleme aufmerksam machen.»
Kuri verletzt sich selbst. Mutter Sonja weiss nur noch einen Ausweg: Sich selbst bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zu melden. Die Behörde vermittelt sie an die Elterntrainingsgruppe «Wendepunkt» in ihrem Heimatkanton St. Gallen. Drei Jahre ist das her. Heute sagt Kuri: «Ich vertraue meiner Mutter blind. Das hatte ich vorher mit niemandem.»