Victorine Fux sitzt auf dem Boden ihrer WG in Zollikon ZH und streicht ihrem Vertrauenshund Milu sanft über den Kopf. Der Hund liegt halb auf, halb neben ihr und wirkt wie ein lebendiger Anker. Es ist ein gewöhnlicher Nachmittag, doch für Victorine, 21 Jahre alt und Humanmedizin-Studentin an der ETH Zürich, ist kein Tag wirklich gewöhnlich.
Eigentlich hatte Victorine geplant, gemeinsam mit ihrem Mitbewohner Dominic und ihrer Mitbewohnerin Alicia das Abendessen zu kochen. Dafür ist sie nun aber zu erschöpft von den vielen Reizen dieses Tages. Denn was man Victorine nicht ansieht: Sie ist im Autismus-Spektrum. Ihre Diagnose hat sie erst vor drei Jahren bekommen.
Autismus – ein Spektrum
Victorine gehört zu den mindestens 88’500 Menschen in der Schweiz, die laut Schätzungen im Autismus-Spektrum leben. Laut der Non-Profit-Organisation «autismus schweiz» hat ca. ein bis drei Prozent der Schweizer Bevölkerung eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum.
Jungen oder Männer würden dabei häufiger diagnostiziert als Mädchen und Frauen. Ein Grund dafür ist der sogenannte «gender bias». Lange Zeit basierten Autismus-Studien fast ausschliesslich auf männlichen Probanden.
Während Jungs oft durch auffälliges Verhalten oder Spezialinteressen wie Züge oder Zahlen auffallen, zeigen Mädchen ihr Anderssein oft durch soziale Schwierigkeiten, die subtiler sind.
Sie lernen früh, sich anzupassen – eine Fähigkeit, die zu einer späten oder gar falschen Diagnose führen kann. Hinzu kommen gesellschaftliche Erwartungen: Mädchen werde laut «autismus schweiz» von klein auf beigebracht, still, schüchtern, unschuldig zu sein. So war es auch bei Victorine.
Meisterin im «Masking»
Ihr Weg zur Diagnose war alles andere als geradlinig. Sie galt als gute Schülerin, introvertiert, höflich und ruhig – grundsätzlich unauffällig. Von ihren Mitmenschen schaute sie sich gewisse soziale Gewohnheiten ab, wie bei Gesprächen ihren Mitmenschen in die Augen zu schauen.
Anderen in die Augen zu schauen, ist für mich sehr unangenehm.
Sie wisse in diesen Gesprächsmomenten nicht, wie genau und wie lange sie ihr Gegenüber anschauen sollte. «Ich habe da gar keine Intuition», sagt sie. Auch Berührungen durch andere Menschen sind für sie sehr unangenehm und kosten sie viel Energie.
Als Kind hielt Victorine diese aus, weil sie es so gelernt hatte. Mit «Masking» schlug sie sich durch ihre Kindheit und Jugend. Sie sagt aber auch: «Die Leute haben mir schon immer gesagt, ich sei komisch.»
Im Gymnasium wurde das Leben für Victorine zunehmend schwieriger. Nach einem Velounfall litt sie unter einer schweren Hirnerschütterung, die es ihr unmöglich machte, sich ihrem Umfeld weiterhin anzupassen.
Sie landete nach einem psychischen Zusammenbruch in einer Klinik, wo die Autismus-Diagnose schnell gestellt wurde. «Ich bin froh, dass ich jetzt die Diagnose habe», sagt Victorine. Heute findet sie sich immer mehr selbst und lernt ihre wahre Identität kennen.
Ein Alltag voller Reize
Victorines tägliches Leben ist geprägt von Struktur, Routinen und ihrem treuen Begleiter Milu. Der Vertrauenshund ist nicht nur emotionaler Halt, sondern auch eine praktische Hilfe. Er merke, wenn Victorine überfordert sei, und führe sie aus der Situation heraus.
Victorines Woche ist voll: mittwochs Orchesterprobe, samstags Cello-Unterricht, täglich mindestens eine grosse Runde Gassi mit Milu und Lernen für das Studium, abends WG-Leben mit ihren Mitbewohnenden Dominic und Alicia. Dazu kommen immer wieder Arzt- oder Therapietermine. Das kann bei Victorine schnell zu Erschöpfung und Reizüberflutung führen.
In solchen Momenten kann ich nicht mehr gut atmen und ich bekomme manchmal eine Panikattacke.
Ein Meltdown und ein Shutdown sind Reaktionen, die autistische Menschen erleben können, wenn sie absolut überreizt sind. Diese Überreizung kennen laut der Autismus-Fachfrau und Psychologin Marianne Schweizer alle Menschen mit Autismus – sie führe aber nicht bei allen zu Melt- oder Shutdowns.
Ein Meltdown ist laut «autismus schweiz» vergleichbar mit einem emotionalen Ausbruch, der auftritt, wenn jemand zu viel Stress, Lärm, starke Emotionen oder andere Reize ertragen musste. In diesem Zustand kann die Person schreien, weinen, Dinge werfen oder sich auf den Boden legen. Dies sind keine bewussten Handlungen oder Wut, sondern eine unkontrollierbare Reaktion auf die Überforderung.
Ein Shutdown hingegen ist das genaue Gegenteil. Dabei zieht sich die Person komplett zurück und wirkt emotional oder körperlich wie «abgeschaltet». Sie spricht vielleicht nicht mehr, bewegt sich kaum oder reagiert nur sehr langsam. Dies geschieht, weil die Reize so überwältigend sind, dass die Person sich nicht mehr ausdrücken oder aktiv handeln kann. Beide Zustände sind ein Zeichen dafür, dass die Person dringend Ruhe und eine unterstützende Umgebung braucht, um sich wieder zu stabilisieren.
Ein Appell für mehr Bewusstsein
Was Victorine sich wünscht, ist mehr Bewusstsein für die Vielfalt im Autismus-Spektrum – besonders bei Frauen.
Dass Mädchen und Frauen oft spät diagnostiziert werden, könne laut Victorine fatale Folgen haben. Etwa, dass Betroffene vor der Autismus-Diagnose unter psychischen Krankheiten leiden.
Ich finde es wichtig, mehr über Autismus zu sprechen.
Victorine wolle ihre Stimme auch erheben, weil es ihr einfach fällt, zu sprechen. «Andere im Spektrum können gar nicht sprechen oder haben grosse Angst davor», sagt sie. Deshalb wolle sie ihre Stimme für Aufklärung nutzen.