Die Krise zwischen Israel und Iran schürt die Angst vor einem Flächenbrand, dass sich der Konflikt ausweitet und auch Europa betrifft. Das Gefühl ist nicht neu. Der russische Angriff auf die Ukraine oder der Hamas-Terroranschlag weckte in einigen Kriegsangst. Psychologieprofessor Jürgen Margraf kennt die Gründe.
SRF News: Weshalb kann der Krieg im Nahen Osten bei uns in Europa Kriegsangst auslösen? Oftmals betrifft dieser unseren Alltag nicht direkt.
Jürgen Margraf: Der Krieg im Nahen Osten betrifft uns zwar nicht so direkt, wie wenn wir unmittelbar Zeuge eines körperlichen Angriffs auf einen nahestehenden Menschen sind. Aber er ist in die Nähe gerückt, und es braucht nicht mehr so viel Fantasie, sich vorzustellen, dass das uns auch betreffen könnte. Man kann das wegdrängen, wenn es aus den Schlagzeilen verschwindet, aber wenn dann wieder etwas Neues passiert, wird es reaktiviert.
Der Mensch verdrängt. Ist das eigentlich nicht ein sinnvoller Schutzmechanismus?
Das Verdrängen kann ein sinnvoller Mechanismus sein. Aber wenn Sie etwas versuchen zu verdrängen, was nicht wirklich aus der Welt geschaffen werden kann, dann müssen Sie sehr viel Energie aufwenden. Das kann über die Zeit immer schwieriger werden und zu immer drastischeren Verdrängungsmassnahmen oder Vermeidungsverhaltensweisen führen.
Dieses Gefühl eines Kontrollverlusts ist für uns sehr belastend und macht auf Dauer krank.
Irgendwann leidet die Konzentration darunter. Das Gefühl steigt auf, etwas nicht im Griff zu haben. Dieses Gefühl eines Kontrollverlusts ist für uns sehr belastend und macht auf Dauer krank.
Also im Umkehrschluss: Wer die Tatsachen anerkennt, hat mehr Kontrolle. Ist das so?
Im Durchschnitt ist es ein erster wichtiger Schritt, Tatsachen anzuerkennen und sich dann vernünftig mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn man versucht, etwas zu leugnen, von dem man eigentlich weiss, dass es da ist, ist das schwierig.
Ein Beispiel: Ein nahestehender Mensch stirbt an einem Unfall. Völlig ausgeschlossen ist das nicht. Die Tatsache stets zu unterdrücken, wird aber irgendwann ziemlich schwierig. Für die meisten Betroffenen ist es deutlich leichter, zu akzeptieren, dass alles Mögliche passieren kann. Und dann ist es noch viel leichter, sich klarzumachen, dass es eben sehr unwahrscheinlich ist. Zudem kann man auch besser anschauen, ob man sich vor den wichtigen Dingen schützt.
Was für eine Rolle spielt die Gewohnheit?
Wir Menschen können uns an fast alles gewöhnen. Das gilt für gute Dinge sowie für schlechte. Bei schlechten Dingen wird schnell klar, warum dieser Mechanismus so wichtig ist. Selbst wenn man beispielsweise einen Todesfall verarbeiten muss, kommen die meisten Menschen innerhalb von zwei, drei Jahren darüber hinweg. Bei positiven Dingen gilt umgekehrt: Wenn Sie sich beispielsweise verlieben oder heiraten, kehrt das normale Leben ebenfalls oft nach zwei, drei Jahren zurück. Bei so etwas wie Krieg oder Frieden ist es leider so, dass wir uns noch etwas schneller daran gewöhnen.
Und so muss man dann immer mehr zu radikaleren Massnahmen greifen, die Realität entweder verleugnen oder sie wie ein Stier bei den Hörnern packen und sich damit auseinandersetzen.
Die Schreckensnachrichten und Bilder waren am Anfang fürchterlich und kaum auszuhalten, aber dann wurden sie nicht mehr so gezeigt und man kann leichter vergessen. Dann kommt das nächste schlimme Ereignis. Und so muss man immer mehr zu radikaleren Massnahmen greifen, die Realität entweder verleugnen oder sie wie ein Stier bei den Hörnern packen und sich damit auseinandersetzen. Letzteres ist der bessere Weg.
Das Gespräch führte Rachel Beroggi.