Nach sieben Jahren soll es in wenigen Wochen so weit sein: 27 Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz veröffentlichen zusammen eine gemeinsame Leitlinie im Umgang mit trans Kindern und Jugendlichen. Dass grosser Handlungsbedarf bestand, der Prozess komplex und die Thematik anspruchsvoll war, zeigt der Umfang des Dokuments: Die eigentlichen Leitlinien mit Praxisempfehlungen sind auf 200 Seiten geregelt, inklusive Anhang umfasst das Dokument 320 Seiten. Das Ziel der Leitlinie: Eine Hilfestellung für Fachpersonen bieten und therapeutische Klarheit schaffen.
Für die Schweiz war Dagmar Pauli federführend daran beteiligt. Sie ist Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Gemeinsam mit Verantwortlichen aus Deutschland und Österreich hat sie die Leitlinie am 20. März einem ausgewählten Kreis vorab vorgestellt.
Sie sagt: «Die meisten Empfehlungen sind mit über 95-prozentigem Konsens getroffen worden. Das heisst, dass wir auch aufgrund von sehr intensiven Debatten über die einzelnen Formulierungen versucht haben, herauszukristallisieren, was die geeignete Formulierung ist – immer am Wohl dieser jungen Menschen orientiert.»
Pubertätsblocker mit Vorsicht einsetzen
Wie stellt man sicher, dass ein junger Mensch wirklich an Geschlechtsdysphorie leidet? Wann setzt man auf medizinische Massnahmen, und auf welche? Es sind Antworten mit weitreichenden Konsequenzen, die Fachpersonen aus unterschiedlichen Disziplinen finden mussten.
Wir haben uns ganz bewusst von irgendwelchen starren Altersgrenzen ferngehalten.
Es habe in den Diskussionen ein besonders kontrovers diskutiertes Thema gegeben: den Umgang mit Pubertätsblockern.
Im Mediengespräch sagt Achim Wüsthof, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Endokrinologikum Hamburg: «Wir haben uns ganz bewusst von irgendwelchen starren Altersgrenzen ferngehalten.» Die Indikation müsse sehr individualisiert gestellt werden.
Klar sei allerdings, dass die Pubertät bereits begonnen haben müsse, die Pubertätsblocker also nicht präventiv eingesetzt werden sollten. Und: «Es ist ganz wichtig, dass diese Behandlung tatsächlich nur bei solchen Jugendlichen stattfindet, bei denen das sinnvoll ist.»
Fachpersonen weisen in der Regel darauf hin, dass Pubertätsblocker eine reversible Angelegenheit und frei von Nebenwirkungen seien. Das ist nicht unumstritten: Es gibt laut Wüsthof Hinweise auf das Risiko der Osteoporose. Unter einer langfristigen Behandlung kann die Knochendichte leiden.
Die Expertenrunde nimmt auch Stellung zur Mediendiskussion. So war vergangene Woche zu lesen, dass Grossbritannien Pubertätsblocker verbiete. Dagmar Pauli korrigiert: «Es gibt in Europa – mit Ausnahme von Russland – kein Land, in dem die Pubertätsblockade verboten ist.»
In der Leitlinie plädiere man «für eine sorgfältige Abklärung und dafür, eine Pubertätsblockade mit Vorsicht einzusetzen». Aber es gebe auch Unterschiede. «Zum Beispiel haben wir nicht gesagt, es geht nur im Rahmen von klinischen Studien.»
Das Dokument mit dem Titel «AWMF-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter» wird erst in den kommenden Monaten veröffentlicht. Es befindet sich nun in der Kommentierungsphase.