Es sei ein toxisches Gemisch, was in den Umfragen gegen den amtierenden Präsidenten spricht: der Anstieg der Konsumentenpreise bei anhaltendem Währungsverfall – dazu die verheerenden Folgen des Erdbebens Anfang Februar im Südosten des Landes. Für Soli Özel, Professor für Internationale Beziehungen an der Kadir Has Universität Istanbul, wartet bei diesen Wahlen ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen.
Denn der Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, Spitzenkandidat der Opposition in einem Sechs-Parteien-Bündnis, hat erstmals wieder die Chance, nicht nur bei den Präsidentschaftswahlen Erdogan zu schlagen, sondern bei den gleichzeitigen Parlamentswahlen auch die stärkste Koalition zu bilden.
Wirtschaftliche Krise wahlentscheidend
Der Fall Erdogans wäre demnach wie sein Aufstieg verbunden mit wirtschaftlicher Krise und einer Naturkatastrophe. Denn schon 2001 befindet sich das Land in einer schweren ökonomischen Lage und kämpft noch mit den Folgen des schweren Erdbebens von 1999 östlich von Istanbul.
Das ist der Moment für Recep Tayyip Erdogan, der die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, mitbegründet. Schon ein Jahr später ist der Sieg bei den Parlamentswahlen überwältigend. Die AKP steht für eine neue politische Linie, Tradition und gleichzeitig Modernisierung, und einen Weg aus der Wirtschaftskrise.
Ob beim Strassenbau, den Brücken über den Bosporus, dem Ausbau des U-Bahn-Systems in allen Metropolen – die Türkei legt unter Erdogan als dreimaliger Regierungschef ein rasches Tempo hin.
Wirtschaftlicher Erfolg hat Preis
«Der Wohlstandsgewinn war enorm für türkische Familien. In den städtischen Zentren, aber auch in der Provinz entstand eine breite Mittelschicht, die es vorher so nicht gab und die zu einer treuen Wählerschaft für Erdogan und seiner AKP heranwuchs», so Soli Özel von der Kadir Has Universität in Istanbul. Das Sozialprodukt pro Kopf kann sich in der Türkei von 3600 USD auf 12'600 USD mehr als verdreifachen. Bis 2012 vervierfacht sich das Pro-Kopf-Einkommen innerhalb von zehn Jahren von 3000 USD auf 12'000 USD.
Dieser von Erdogan geführte wirtschaftliche Erfolg aber hatte auch einen Preis. 2013, infolge der Proteste um ein geplantes Einkaufszentrum am Gezi Park im Zentrum Istanbuls, wird die Meinungsfreiheit in der Türkei immer mehr eingeschränkt. Viele Menschen werden verhaftet und landen bis heute im Gefängnis.
Bringt die Rezession Erdogan zu Fall?
2014 wechselt Erdogan ins Präsidentenamt und wandelt schrittweise das Land in ein autokratisches System. Diesen Wechsel spürt auch die Wirtschaft. Ausländische Investoren ziehen sich zurück. Eine fast autistische Währungs- und Finanzpolitik sorgt dann in den letzten fünf Jahren für Kennzahlen, die nur noch im roten Bereich liegen. Die Inflation liegt bei teilweise 85 Prozent, der Währungszerfall der türkischen Lire erreicht 300 Prozent.
Dementsprechend schnellen die Verbraucherpreise nach oben. Die Erhöhung des Mindestlohns kann der Verarmung breiter Schichten in der Bevölkerung nichts entgegensetzen. Sinnbildlich ist der Preisanstieg der einfachen Zwiebel, Grundbestandteil in jeder Küche. Ihr Kilopreis ist heute 60-mal teurer als vor 15 Jahren. Kein Wunder, dass die Zwiebel jetzt Wahlkampfthema ist.
Nach Wohlstand und Wachstum hat Recep Tayyip Erdogan Armut und Rezession gebracht. An der Urne könnte das der finale Denkzettel für ihn werden und seinen Fall nach zwanzig Jahren an der Macht besiegeln.