In gut zwei Wochen wählen die Menschen in der Türkei. Ausgerechnet in dieser entscheidenden Phase hat der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan Wahlkampfauftritte aus gesundheitlichen Gründen abgesagt. Aufgetreten ist er am Donnerstag lediglich per Videoschaltung. Auslandredaktor Philipp Scholkmann mit einer Bestandesaufnahme.
SRF News: Welchen Eindruck hat Erdogan gemacht?
Philipp Scholkmann: Er wirkte etwas blass, aber doch soweit bei Kräften, dass er diese kurze Videoansprache zur Einweihung des ersten türkischen Atomkraftwerks halten konnte. Der Einweihungstermin war ihm sehr wichtig. Erdogan wollte im Wahlkampf ein starkes Zeichen für Energiesicherheit setzen.
Erdogan gibt sich gerne als starker Anführer. Nun musste er Termine absagen. Könnte ihm das schaden?
Das ist nicht auszuschliessen. Sein stärkstes Argument ist, dass er der Macher ist und zupackt; und deshalb auch in jeder Krise die verlässlichste Wahl darstellt. Wenn er jedoch schwächelt, kratzt das an diesem Image und bringt vielleicht Wählerinnen und Wähler, die unentschlossen waren, von ihm ab. Andererseits bleiben noch gut zwei Wochen bis zu den Wahlen. Und wenn es tatsächlich nur eine Magen-Darm-Grippe war und er den Wahlkampf bald wieder mit voller Energie aufnimmt, fällt diese Schwäche am Ende wohl nicht so sehr ins Gewicht.
Es zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ab. Die Umfragen prognostizieren einen leichten Vorsprung für die Opposition. Warum dieser Rückstand?
Das Hauptproblem ist die Wirtschaftskrise. Die Sachen sind unglaublich teuer geworden, die Landeswährung hat massiv an Wert verloren, die Inflation ist sehr hoch. Sogar Mittelstandsfamilien haben inzwischen Mühe, bis zum Monatsende durchzukommen. Ich bin in den letzten Wochen kreuz und quer durch die Provinz, durch Anatolien, gereist und habe diese Sorge in jedem Gespräch gehört. Im Erdbebengebiet kommt bei manchen noch die Wut über die staatliche Hilfe dazu, welche nicht rechtzeitig gekommen sei oder nicht gerecht verteilt werde. Es gibt aber nach wie vor einige Unentschlossene, gerade Junge, die an sich enttäuscht sind von Erdogan, aber damit hadern, der Opposition die Stimme zu geben, von der man nicht so recht weiss, ob sie das Land auch mit sicherer Hand führen kann.
Die Opposition ist ein Zweckbündnis aus sechs Parteien, die weltanschaulich doch weit auseinander liegen.
Warum diese Vorbehalte gegenüber der Opposition?
Die Opposition ist sich vor allem darin einig, dass Erdogan nach zwei Jahrzehnten wegmuss und mit ihm auch die Einmannherrschaft, das extreme Präsidialsystem, das er sich in die Verfassung schreiben liess. Und sie setzt darauf, dass die Türkei genug davon hat und zurück zu einer parlamentarischen Demokratie will. Ansonsten aber ist die Opposition ein blosses Zweckbündnis aus sechs Parteien, die weltanschaulich doch weit auseinander liegen. Und um Erdogan zu schlagen, sind diese sechs Parteien noch auf eine siebte, eine kurdische Partei, angewiesen, die gar nicht offiziell zum Bündnis zählt.
Der Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, ein ehemaliger Staatsbeamter, ist auch eher der sanfte Typ, ein Vermittler. Er versucht, daraus eine Tugend zu machen, indem er sagt, das Land habe genug vom polternden Populisten und brauche Versöhnung. Was bei der Präsidentschaftswahl für die Opposition noch erschwerend dazukommt: Es sind zwei chancenlose Kandidaten mit im Rennen, welche Kilicdaroglu Stimmen kosten könnten, sodass er Erdogan nicht auf Anhieb schlagen kann und es zu einem zweiten Wahlgang kommt.
Das Gespräch führte Nina Gygax.