Für Abuzer ist der Fall klar. «Wir haben zwölf Stimmen in der Familie, und ausser meiner Mutter werden alle ihre Stimme der Opposition geben. Zum ersten Mal überhaupt». Zwei Monate sind vergangen seit dem verheerenden Erdbeben.
Abuzer sitzt vor seinem Zelt in der Stadt Adiyaman. Gleich über die Strasse stehen Container. Sie seien reserviert für Regierungsangestellte. Selbst in der Misere seien in diesem Staat noch manche besser gestellt. Die Türkei sei doch kein Königreich.
Abuzars Zeltnachbarin sagt: «Gott segne alle, welche die Erdbebenopfer unterstützen» – und kritisiert ebenfalls die Regierungshilfe, die schleppend vorangehe.
Ein dritter mischt sich ein. Er wiederholt, was schon seit dem Erdbeben immer wieder zu hören ist: dass in den ersten drei Tagen überhaupt keine Hilfe vom Staat gekommen sei, dass Menschen deswegen in ihren Häusern starben, die nicht hätten sterben müssen.
Der Gouverneur von Adiyaman wurde inzwischen frühpensioniert, aus gesundheitlichen Gründen, wie es offiziell heisst. Das allerdings reicht nicht, um das Grüppchen im Zeltlager umzustimmen.
Die Kritik ist bemerkenswert in diesem tief konservativen und religiösen Landesteil, der bei allen Wahlen seit zwanzig Jahren stets mit grosser Mehrheit für Erdogan gestimmt hatte.
Die Oppositionsparteien in Ankara greifen die Kritik auf. Doch es gehe nicht nur um das Katastrophenmanagement, das Versagen von Erdogans Staat sei viel umfassender.
Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu hält eine Zwiebel in die Kamera, um es zu demonstrieren. Schon jetzt kostet das Kilo exorbitante dreissig türkische Pfund. Wenn Erdogan an der Macht bleibe, werde sich der Zwiebelpreis noch mehr als verdreifachen, behauptet der Herausforderer des Präsidenten.
Kilicdaroglu holt die Bevölkerung im Rest des Landes damit bei ihrer Hauptsorge ab, dem rasanten Kaufkraftverlust. Selbst manche Mittelstandsfamilien haben Schwierigkeiten, bis ans Monatsende durchzukommen.
Erdogan versprach, die Inflation auf unter zehn Prozent zu bringen. Wie, liess er offen. Sein Herausforderer entwirft derweil das Bild einer blühenden Türkei, die mit sich selbst im Reinen ist. Erdogan teilte die Nation in Freund und Feind und schlug daraus geschickt politisches Kapital.
Kilicdaroglu demonstriert Bescheidenheit: Der Videoclip mit der Zwiebel kommt direkt aus der schmucklosen Küche seiner Wohnung. Der Gegensatz könnte nicht grösser sein zu den goldglänzenden Armaturen im prunkvollen Präsidentenpalast, den sich Erdogan in Ankara hinstellen liess.
Die Opposition hat sich für diese Wahlen zusammengerauft. Die Umfragen geben ihr einen leichten Vorsprung. Dies, auch wenn die neue Einigkeit kaum über die Überzeugung hinausgeht, dass Erdogan verschwinden müsse – und mit ihm das Präsidialsystem in der Verfassung, das alle Macht beim Staatspräsidenten konzentriert. Der Präsident selbst wird nicht müde, die Vielstimmigkeit seiner Gegner zu verspotten.
Vor dem AKP-Büro warten Bittsteller darauf, vorgelassen zu werden. «Wir versuchen ihnen zu helfen», sagt ein Aktivist in der Jugendorganisation von Erdogans Partei. «In der Krise ist eine starke Hand gefragt. Erdogan hat sie noch immer.» Erdogan ist bekannt für sein Stehvermögen, und er hat seine Gefolgschaft. Aber auch der Parteiaktivist räumt ein, dass der Präsident einen Monat vor der Wahl aus der Defensive agiere.