Das Erdbeben Anfang Februar hat unbeschreibliches menschliches Leid verursacht, es führte auch zu kolossalen wirtschaftlichen Schäden. Die Verantwortlichen versuchen sich den Überblick zu verschaffen, auch in Malatya.
Es gibt auch positive Nachrichten aus der ostanatolischen Provinzhauptstadt: Das mächtige staatliche Spital trotzte den Erdstössen, das neue zwanzigstöckige Hotel neben dem Stadtpark und manch andere Gebäude hielten ebenfalls stand – und dies nur wenige hundert Meter vom Platz im Zentrum mit der eingestürzten Moschee und dem zerstörten Stadtkaffee.
Und draussen in der Industriezone läuft beim grossen Textilunternehmen Calik Denim die Produktion der Jeans-Stoffe «Made in Malatya» wieder an.
Unmittelbar nach dem Erdbeben öffnete Fabrikdirektor Serhat Karaduman seine erdbebensicher gebauten Fertigungshallen als provisorische Unterkunft für Angestellte der Firma und andere Obdachlose. Inzwischen sind die Obdachlosen in eine Containersiedlung vor der Fabrik umgezogen.
Ertragsausfälle in Millionenhöhe
Die Grosskunden in Europa hätten Verständnis für die Extremlage gezeigt und warteten ohne Protest auf verspätet ausgelieferte Bestellungen, sagt Karaduman. Den Ertragsausfall allein für seine Fabrik schätzt der Direktor dennoch auf 10 bis 12 Millionen Dollar.
Für das gesamte Erdbebengebiet beziffert die UNO-Entwicklungsorganisation (UNDP) die Schäden auf 100 Milliarden Dollar.
Hier in Malatya kann sich der Textilsektor langsam aufrappeln. Deutlich schwieriger sei das in Kahramanmaras, näher beim Epizentrum, sagt Serhat Karaduman.
Historischer Aprikosenmarkt in Trümmern
Noch wichtiger als die Textilien sind fürs Malatyas Wirtschaft die Aprikosen: Die meisten der getrockneten Aprikosen im europäischen Markt kommen aus der Hochebene um die ostanatolische Stadt.
Der historische Aprikosenmarkt für die Detailhändler war bis vor dem 6. Februar eine Attraktion der Stadt, seit dem Erdbeben liegt er in Trümmern, der Umschlagplatz für die Grosshändler dagegen, der für die regionale Wirtschaft viel wichtiger ist, funktioniert noch.
Insgesamt dürften sich die Ernteausfälle in Grenzen halten, hofft Aprikosenhändler Yasar Seven. Seine Hauptsorge ist, ob genügend Arbeiter zurückkehren, um den Umschlag zum Hafen in Izmir zu bewältigen.
Es heisst, drei Fünftel der Bevölkerung habe die Stadt verlassen, weil die Wohnungen nicht mehr existieren, oder aus Angst vor Nachbeben oder weil sie keinen Sinn darin sehen, in einer Stadt auszuharren, die nur noch im Überlebensmodus funktioniert.
Sefket Keskin von der örtlichen Gewerbekammer appelliert an die Politiker, die Ladenbesitzer nicht zu vergessen, die wirtschaftliche Existenz von zehntausenden Menschen stehe auf dem Spiel.
An der Inönü-Einkaufsstrasse sind zwar nur wenige Häuser zerstört. Aber sogar hier sind die meisten Geschäfte noch geschlossen.
In manchen Abschnitten der Strasse hängen Absperrbänder vor den Läden, weil die Gebäude nicht sicher sind. «Welche Tristesse», sagt Irfan, der seit mehr als dreissig Jahren in der Einkaufsstrasse arbeitet.
Sein kleiner Uhrenladen ist eines der wenigen Geschäfte, die geöffnet sind. Das Gebäude über dem Laden ist nur zweistöckig und solid, gibt sich der Uhrenhändler überzeugt. Seinen Laden aber halte er nicht offen, weil er gross Umsatz machen könnte, sondern um ein Zeichen zu setzen, dass es mit Malatya wieder aufwärtsgehen müsse.