Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dreht weiter an der Repressionsschraube. Neuerdings hat er eine der grössten Frauenrechtsgruppen des Landes im Visier – sie soll verboten werden. Mittlerweile wittere Erdogan in allen nicht-regierungsnahen Organisationen eine Gefahr für seine Macht, so der Journalist Thomas Seibert.
SRF News: Was hat der türkische Präsident gegen eine Frauenrechtsgruppe?
Thomas Seibert: Erdogan betont zwar immer wieder, seine Regierung bekämpfe die häusliche Gewalt gegen Frauen. Doch er will es nicht hinnehmen, dass dieser Kampf von einer Institution geführt wird, die er nicht kontrollieren kann. Deshalb soll die Organisation verboten werden. Erdogan wittert hinter allen Organisationen, Institutionen und Verbänden, die er nicht selber kontrolliert, eine potenzielle Gefahrenquelle für seine eigene Macht.
Ist Erdogans Haltung möglicherweise auf das vor vier Jahren eingeführte Präsidialsystem zurückzuführen, das alle Macht auf ihn konzentriert und er deshalb alles, was er nicht kontrollieren kann, als Gefahr empfindet?
Genau. Es ist dies eine direkte Folge des türkischen Präsidialsystems, das der Macht des Präsidenten fast keine Grenzen setzt. Kräfte, die nicht dem Regierungslager angehören, geraten unter Verdacht der Staatsfeindlichkeit.
Erdogan dreht also weiter an der Repressionsschraube – befürchtet er, seine Macht bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen in einem Jahr zu verlieren?
In der Tat sehen die Umfragen sein Regierungsbündnis derzeit hinter einer Allianz aus Oppositionsparteien. Hauptgrund dafür ist die miserable Wirtschaftslage in der Türkei mit einer Jahresteuerung von derzeit offiziell 70 Prozent, wobei regierungsunabhängige Experten die Inflation sogar doppelt so hoch ansetzen.
Die Stimmung ist gedrückt – und das ist schlecht für die Regierung.
Viele Türkinnen und Türken wissen nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen, es gibt Berichte, wonach die Leute ihre Kreditkartenrechnungen nicht mehr bezahlen können. Das alles drückt auf die Stimmung – und ist schlecht für die Regierung.
Die Schuld sehen die Menschen also beim Präsidenten, wenn es mal nicht gut läuft?
Das ist grundsätzlich die Gefahr eines solchen Präsidialsystems. Deshalb versuchen Erdogan und seine Regierung, die Erfolge für sich zu reklamieren, wenn es aber kriselt, werden finstere Kräften aus dem Ausland dafür verantwortlich gemacht.
Wenn es kriselt, werden finstere Kräften aus dem Ausland verantwortlich gemacht.
Viele Leute glauben dieser Darstellung, das zeigen etwa antiwestliche und antiamerikanische Strömungen in der türkischen Gesellschaft. Der Westen beabsichtige, den Aufstieg der Türkei zu blockieren, heisst es dann.
Erdogan markiert auch auf der Weltbühne den starken Mann, er versucht den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden zu blockieren. Ist auch diese Haltung vor allem innenpolitisch motiviert?
Die Innenpolitik ist ein wichtiger Faktor – und Erdogan weiss, dass er damit punkten kann. Denn trotz der schlechten Bewertung für Erdogans Wirtschaftspolitik unterstützt eine Mehrheit seine Politik im Nato-Streit. Auch das zeigen Umfragen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.