Anfang Dezember leitete der Europarat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei ein – erst zum zweiten Mal in der Geschichte der Strassburger Organisation; der erste Fall betraf Aserbaidschan. Zwei Monate hatten nun die türkischen Behörden Zeit einzulenken und – wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefordert – den Kulturmäzen und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala freizulassen.
Die gegenüber Präsident Recep Tayyip Erdogan willfährige Justiz weigert sich jedoch. Vielmehr konstruierte sie, wenig glaubwürdig, neue Vorwürfe gegen Kavala, etwa wegen Spionage.
Deshalb musste sich nun der Europarat, konkret das Ministerkomitee, erneut mit dem Fall Türkei befassen. Es entschied mit der nötigen Zweidrittelmehrheit, das Verfahren gegen die Türkei fortzusetzen. Der Ball geht wieder zum Gerichtshof.
Druck auf Erdogan steigt
Er muss formell feststellen, dass die Türkei sein Urteil missachtet. Danach ist erneut das Ministerkomitee am Zug, das über konkrete Sanktionen entscheidet. Sie können vom Entzug des Stimmrechts bis zum Ausschluss der Türkei aus dem Europarat reichen. Das wäre eine historische Premiere. Der Druck auf Machthaber Erdogan steigt also.
Dass sich das Ministerkomitee heute gegen die Türkei entschied, hat sie sich selber eingebrockt. Der Beschluss ist aufgrund der Prinzipien und Werte des Europarats eigentlich zwingend. Doch selbstverständlich ist er nicht. In den vergangenen Tagen wurde nämlich gar vermutet, etliche Länder wollten das Vertragsverletzungsverfahren stoppen und Milde walten lassen. Und zwar, weil die Türkei in der aktuellen Krise zwischen dem Westen und Russland rund um die Ukraine ein unverzichtbarer Partner in Europa ist.
Mehrheit zeigt Rückgrat
Deshalb will etwa die Nato unbedingt verhindern, dass sich ihr Mitglied vom Westen ab- und Moskau zuwendet. Entsprechend gross die Sorge, viele Europaratsmitglieder wollten Ankara auf keinen Fall vergrätzen. Erdogan selber dürfte auf einen solchen Effekt gesetzt und genau deshalb bisher nicht eingelenkt haben.
In diesem Fall jedoch zeigten mindestens zwei Drittel der Europaratsmitglieder Rückgrat. Damit setzen sich – in der internationalen Politik keineswegs selbstverständlich – für einmal prinzipielle gegenüber opportunistischen Überlegungen durch.