In der Türkei sind nicht nur der Staat und professionelle Hilfsorganisationen im Einsatz – es gibt auch viel spontane Hilfe. Die Solidarität in der türkischen Bevölkerung ist riesig. Sie sei so gross, dass sie Präsident Erdogan nicht behage, sagt der in Istanbul lebende Journalist Thomas Seibert.
SRF News: Wie funktioniert die private Hilfe in der Türkei?
Thomas Seibert: Das beginnt mit Nachbarschaftsinitiativen, die in ihrer Garage Windeln und Decken sammeln und das Material dann mit den eigenen Lastwagen in die Katastrophenregion fahren. Besonders für Furore sorgt derzeit auch die Hilfsorganisation des türkischen Rockstars Haluk Levent.
Auch die Stadtregierungen von Istanbul und Ankara haben Hilfsteams entsandt.
Auch manche Stadtverwaltungen, wie jene von Istanbul oder von Ankara, schicken eigene Teams in die Unglücksregion. Sie berichten dann sehr aktiv per Videos und soziale Medien über ihre Tätigkeiten.
War das mit den vielen privaten Initiativen nach dem grossen Erdbeben von 1999 nicht ganz ähnlich?
Auch damals stemmte die Zivilgesellschaft sehr viel, ja. Doch damals versagte der Staat total, es dauerte drei Tage, bis staatliche Helfer vor Ort waren. Diesmal reagierte der Staat sehr schnell und massiv: Zehntausende staatliche Helfer und die Armee sind vor Ort. Trotzdem ist heute die Aktivität der Zivilgesellschaft ähnlich wie vor 24 Jahren.
Präsident Erdogan ist Verfechter eines starken Zentralstaats. Wie reagiert er auf die dezentralen Hilfsaktionen, die am Staat vorbeioperieren?
Er reagiert verschnupft. Vor allem die Hilfsaktionen aus Istanbul und Ankara stören ihn. Beide Städte werden von der Opposition regiert, und die dortigen Bürgermeister gelten beide als potenzielle Herausforderer Erdogans bei der Präsidentenwahl Mitte Mai.
Die private Hilfe füllt eine Lücke in Gebieten, wo die Helfer des Staates bisher nicht aufgetaucht sind.
Dass sie sich jetzt profilieren und die staatlichen Helfer möglicherweise etwas schlecht aussehen lassen, passt Erdogan gar nicht. Denn die private Hilfe füllt auch eine Lücke in Gebieten, wo die Helfer des Staates bisher nicht aufgetaucht sind.
Geht Erdogan so weit, dass er sogar Hilfe blockiert?
Die Opposition wirft ihm genau das vor, was allerdings schwierig zu überprüfen ist. Die Türkei wurde mitten im Wahlkampf von der Erdbebenkatastrophe getroffen, deshalb stimmt wohl nicht alles, was kolportiert wird. Doch die Tatsache, dass darüber geredet wird, spricht dafür, dass die Regierung von einer gewissen Konkurrenz durch die nicht von ihr kontrollierten Hilfsaktionen ausgeht.
Das politische Ausschlachten von Not gilt als geschmacklos – betreibt da die Opposition nicht ein riskantes Spiel?
Riskant ist es auf jeden Fall. So haben sich die prominenten Oppositionspolitiker in den ersten Tagen nach der Katastrophe auffallend stark zurückgehalten. Doch zunehmend legen sie die Zurückhaltung ab – nicht zuletzt deshalb, weil Erdogan seinerseits jetzt auf die Opposition schimpft.
Zusammenfassend: Wie gut hat die Regierung das Rettungsmanagement im Griff?
Sie hat es in grossen Teilen durchaus im Griff. Doch sie macht es sich selber schwer, indem sie von einem Unfehlbarkeitsanspruch ausgeht. Gestern sagte Erdogan, die Lage verbessere sich laufend. Sein Finanzminister sprach heute von einer Rückkehr zur Normalität.
Menschen müssen in Autos schlafen, haben nichts zu essen oder warten auf Bagger, um ihre Verwandten auszugraben.
Doch das entspricht keineswegs dem, was die Türkinnen und Türken sehen: In der Katastrophenregion liegen viele Erdbebenopfer auf der Strasse, Menschen müssen in Autos schlafen, haben nichts zu essen, warten auf Bagger, um ihre Verwandten auszugraben und hoffen noch immer, Überlebende zu finden. Diese Diskrepanz schadet der Regierung.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.