Keiner spricht in diesen Tagen davon – doch der Termin steht weiter. Am 14. Mai soll in der Türkei ein neues Staatsoberhaupt und ein neues Parlament gewählt werden. Dieses Datum hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan vor drei Wochen mit politischem Kalkül gewählt – als die Welt in der Türkei noch «in Ordnung» war.
Seit dem Beben von Montagnacht aber ist das Land ein anderes geworden. 16 Millionen Menschen sind auf Dauer indirekt von Tod und Zerstörung betroffen – fast ein Drittel aller Wahlberechtigten im Land. Was bedeutet das, wenn der Wahltermin bestehen bleibt?
Kann Präsident Erdogan und seine Regierungspartei AKP in der betroffenen Region für Perspektive und Wiederaufbau sorgen? Oder wird der Machtapparat, der seit fast 20 Jahren in der Türkei regiert, für die Verfehlungen belangt, die in zehn Provinzen zum Einsturz ganzer Wohnquartiere geführt haben?
Opposition steht im Abseits
Der Ausgang ist bislang völlig offen. Erdogan gibt sich führungsstark, verspricht Soforthilfe und will das Land mit Notverordnungen regieren. Und der Präsident wird versuchen, die internationale Solidarität als Vertrauen der Welt in die Führung dieses Landes zu verkaufen.
Die Opposition kann sich nicht einfach in dieser Notsituation profilieren. Eigentlich wollte das Bündnis aus sechs Parteien am 13. Februar einen gemeinsamen Spitzenkandidaten bekannt geben. Ein Mann war im Spiel – doch interessiert das jetzt?
Meral Akşener, Chefin der rechten IYI-Partei und einzige Frau im Oppositionsbündnis, hält sich auffallend zurück. Sie spricht von einer Notsituation, «in der wir die Stimme unseres Staates hören müssen, in der wir still sein sollten».
Anschuldigungen gegen Erdogan
Die Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Mansur Yavaş und Ekrem İmamoğlu, Aushängeschilder der Republikanischen Volkspartei CHP, loben öffentlich vor allem die Arbeit ihrer Rettungsmannschaften im Erdbebengebiet. Nur ihr Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu benennt Erdogan und seiner AKP als klaren Schuldigen für dieses Desaster. «Diese Regierung hat 20 Jahre lang das Land für ein schweres Erdbeben nicht vorbereitet. Die dafür vorgesehenen Steuern und Abgaben wurden veruntreut, Bauvorschriften nicht eingehalten. Der Staat ist nicht da, wenn man ihn braucht.»
Die nächsten Wochen werden entscheiden, ob die Anschuldigungen mehr werden, ob ungenügendes Krisenmanagement das Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten schmälert. Dann könnte die Zeit reif sein für ein politisches Beben, auf das die Opposition in der Türkei schon lange wartet.