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Diyarbakir und die kurdische Identität
Aus International vom 06.05.2023. Bild: SRF Philipp Scholkmann
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Kulturelle Vielfalt Diyarbakir und die kurdische Identität in der Türkei

Das «Kurdenproblem» sei gelöst, behauptet der türkische Präsident Erdogan. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte er versprochen, kulturelle Vielfalt im Einheitsstaat zuzulassen. Das weckte Hoffnungen in den kurdischen Gebieten. Diese haben sich zerschlagen. Eine Reportage aus Diyarbakir.

Ergün Ayik sitzt vor der armenischen Kirche des Heiligen Cyriakus in der Altstadt von Diyarbakir und lässt seinen melancholischen Blick über die neuen Häuser der Umgebung schweifen. «Das ist nicht mehr Diyarbakir», sagt der pensionierte Ingenieur. «Sie haben das alte Diyarbakir zerstört.»

Älterer Herr mit brauner Cordjacke sitzt an einem Café-Tisch
Legende: Ergün Ayik musste vor Gericht erkämpfen, dass die armenische Kirche des Heiligen Cyriakus, vor der er sitzt, ein Gotteshaus blieb. SRF

Ayik hat seine Kindheitsjahre in den engen Altstadtgassen der südostanatolischen Millionenstadt verbracht. 70 Jahre ist das her.

Die Stadtmauer geht auf die Römerzeit zurück und signalisiert schon die grosse Vergangenheit der Millionenstadt. Aber auch die Spuren gewaltsamer Konflikte sind allgegenwärtig.

Eine alte, hohe Mauer mit einem Turm, davor Parklandschaft
Legende: Die imposante Stadtmauer aus dem schwarzen Basaltstein der Umgebung steht noch. SRF

Der letzte Konflikt ist keine acht Jahre her. «Wenn Sie genau schauen, können Sie noch die Einschusslöcher sehen», sagt Ayik und zeigt auf die Fassade des Gotteshauses.

Gebäude, weiss und aus Steinen, daneben ein Geschäft oder Café
Legende: Die armenische Kirche des Heiligen Cyriakus in der Altstadt von Diyarbakir. SRF

Junge kurdische Aufständische errichteten im Herbst 2015 Barrikaden, erklärten im Namen der Arbeiterpartei PKK die Altstadt von Diyarbakir zur «Autonomen Zone».

PKK: Mit Waffengewalt für kurdische Selbstbestimmung

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Abdullah Öcalan gründete die PKK Ende der Siebzigerjahre als straffe, anfangs marxistische Organisation. Sie kämpft mit Waffengewalt für kurdische Selbstbestimmung, phasenweise tat sie es auch mit Anschlägen. Das brachte sie auf die Terrorlisten verschiedener europäischer Staaten. Besonders blutig war dieser Krieg in den 90ern.

Die türkische Armee antwortete mit aller Härte. Zehntausende Menschen wurden getötet. Die Armee rekrutierte ihrerseits kurdische Clans, die sogenannten Dorfgarden. Es kämpften in diesem Krieg auch Kurden gegen Kurden. Hunderttausende wurden vertrieben, viele kamen hier nach Diyarbakir.

Die Stadt schwoll an, gesichtslose Vorstädte wuchsen. Und auch in den heruntergekommenen Altstadtgassen hinter der armenischen Kirche fanden die Vertriebenen eine neue Bleibe. Bis es auch hier zur Explosion kam.

Die türkische Armee zögerte nicht, schoss aus Helikoptern und Panzern in die Gassen, in welchen sich die Aufständischen verschanzt hatten.

Mehrere hundert Menschen wurden damals in Diyarbakir und bei vergleichbaren Kämpfen in anderen Städten Südostanatoliens getötet. Die Kämpfe haben sich seither Richtung Nordirak und Syrien verlagert. Dort bedrängt die türkische Armee nun die PKK in deren Rückzugsgebieten. Doch Diyarbakir bezahlte einen enormen Preis.

Das Projekt wurde direkt aus der Hauptstadt Ankara gesteuert. Grundbesitzer wurden enteignet, der grossflächige Abriss begann. Nur ein Bruchteil der alten Häuser sei in den Kämpfen unwiederbringlich zerstört worden, sagt Selma Aslan, die Chefin der Architekturkammer von Diyarbakir.

Portrait einer Frau mit Sonnenbrille auf dem Kopf
Legende: «Die Sanierung hat ein politisches Ziel», sagt Selma Aslan, die Chefin der Architekturkammer von Diyarbakir. SRF

Es sei darum gegangen, der Altstadt ihre Identität zu nehmen, ist die Direktorin der Architekturkammer überzeugt.

Selbst Ergün Ayik musste vor Gericht erkämpfen, dass die armenische Kirche des Heiligen Cyriakus, vor der er sitzt, ein Gotteshaus blieb. Sie war die grösste armenische Kirche des Nahen Ostens, bis zum Völkermord an der armenischen Bevölkerung – dessen Existenz die offizielle Türkei noch immer bestreitet. Sie spricht von Massakern im Kontext des Ersten Weltkriegs. In den Jahrzehnten nach dem Völkermord zerfiel die Kirche.

Kirche von Innen
Legende: Sie war einst die grösste armenische Kirche des Nahen Ostens: die armenische Kirche des Heiligen Cyriakus. SRF

Ayik, der heute in Istanbul lebt, sammelte Geld für die Renovation und kam regelmässig in die Stadt seiner Kindheit zurück, um die Instandstellung des verlassenen Gotteshauses zu beaufsichtigen. Nach den Kämpfen 2015/2016 begann die Sanierung ein zweites Mal.

Kurdische Wehklagen

In einem anderen Teil der Altstadt, einem, der nicht von der Sanierung entstellt wurde, singt Ibrahim Almas eine Wehklage auf Kurdisch. Im traditionellen Sprechgesang der Gegend. Ibrahim Almas ist ein sogenannter Dengbej.

Seit alters tragen diese Volkssänger Heldenepen auf Kurdisch vor oder gesungene Chroniken über herausragende Ereignisse, welche der Gemeinschaft widerfuhren. Viele sind tragisch. Die kurdische Geschichte ist durchzogen von Katastrophen. Wenn eine neue hinzukam, entstand ein neuer Gesang. So ist es heute noch.

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Ibrahim Almas singt eine Wehklage auf Kurdisch
aus International vom 06.05.2023. Bild: SRF
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Die Dengbej treffen sich in einem jahrhundertealten Gebäude. Unter der früheren, kemalistischen Staatsmacht der Türkei wären solche Versammlungen unmöglich gewesen. Almas erinnert sich, wie noch in den Neunzigern selbst Musikkassetten mit kurdischen Gesängen beschlagnahmt wurden.

Mann mit silbergrauen Haaren sitzt auf einer Bank mit grossen, rot-schwarzen Zierkissen. Dahinter eine Steinwand.
Legende: Ibrahim Almas ist ein Dengbej, ein Volkssänger. SRF

Dass sich die Dengbej nicht mehr zu verstecken brauchen, ist auch Recep Tayyip Erdogan zu verdanken. Dieser versprach zur Jahrtausendwende eine Art historische Revanche. Alle, die sich im säkularen Einheitsstaat nach dem Entwurf von Mustafa Kemal Atatürk ausgegrenzt fühlten, sollten in Erdogans neuer Türkei zu ihrem Recht kommen.

Der kemalistische Einheitsstaat

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Legende: Atatürk-Denkmal in Diyarbakir. SRF

Auch auf dem Platz vor der Altstadt in Diyarbakir steht ein Denkmal für Mustafa Kemal Atatürk, den Kriegshelden und Gründer der modernen Türkei 1923.  Genau vor 100 Jahren wurde die moderne Türkei als resoluter Einheitsstaat geschaffen, es gab darin keinen Raum für kulturelle Vielfalt. Vorbild war das napoleonische Frankreich. Der Nachfolgestaat des zerfallenen Osmanischen Reichs verfolgte eine strikte Assimilierungspolitik, in der alle gleich und türkisch sein sollten, auch die Kurdinnen und Kurden. Den kemalistischen Modernisierern war auch die traditionelle Frömmigkeit suspekt. 

Zuletzt gingen die türkischen Generäle so weit, das Kopftuch in öffentlichen Gebäuden, Schulen, Amtsstuben, Universitäten zu verbieten. Im konservativen kurdischen Stammesland war das eine doppelte Provokation.

Erdogan zählte damals auch auf die kurdischen Stimmen. Als Regierungschef streckte er gar die Fühler Richtung PKK aus, es begann ein Versöhnungsprozess. Doch dieser war kurzlebig.

Erdogans Kehrtwende in der Kurdenpolitik

Warum die Waffenruhe zusammenbrach und die PKK 2015 ihren Krieg bis in die Altstadt von Diyarbakir trug, darüber gehen die Darstellungen auseinander. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig. Der Kollaps kam im Kontext des Syrienkriegs. Dieser wurde für Erdogan zum Debakel und machte die PKK wieder selbstsicher.

Streitpunkt Syrien

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Erdogan hatte im Nachbarland auf den Sturz von Staatschef Baschar al-Assad hingearbeitet, er unterstützte dazu in Syrien arabische Rebellen. Doch Assad blieb an der Macht. Entlang der türkischen Grenze im Norden Syriens entstand stattdessen im Kriegschaos eine kurdische Autonomiezone. Ausgerechnet die PKK zog dabei über einen syrischen Ableger die Fäden.

Die PKK erreichte also in Nordsyrien, wofür sie in der Türkei stets vergebens gekämpft hat. Zuhause erlitt der Staatspräsident in der gleichen Zeit einen Rückschlag bei den Wahlen. Eine kurdische Partei – die HDP – erzielte überraschende Erfolge. Es schwächte Erdogan im Parlament.

Der türkische Präsident vollzog eine Kehrtwende in der Kurdenpolitik und setzt seither auf türkische Ultranationalisten als Bündnispartner. Ins Visier nahm Erdogan auch die kurdische Partei HDP, sie sei der politische Arm der PKK, unterstütze den Terrorismus.

Erdogan will kurdische HDP verbieten

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Legende: Im Wahlkampf flattern Ihre Fähnchen über einer Geschäftsstrasse von Diyarbakir. SRF

Hunderte Politikerinnen und Aktivisten der HDP sind verhaftet worden. Erdogan liess Städte und Gemeinden, die von der HDP regiert wurden, unter Zwangsverwaltung stellen. Auch die Millionenstadt Diyarbakir hat seither keine gewählte Stadtverwaltung mehr.

Sogar die ganze Partei soll nach dem Willen Erdogans noch verboten werden. Ein Verfahren dazu läuft vor dem obersten Gericht, ebenfalls wegen angeblicher Terrorunterstützung. 

Um einem allfälligen Verbot noch vor den Wahlen zuvorzukommen, setzte die HDP ihre Kandidierenden auf die Liste eines kleinen Bündnispartners, der «Grünen Linkspartei».

Wie nahe die HDP der PKK steht, ist umstritten. Klar ist nur: Sie findet einen Teil ihrer Gefolgschaft im gleichen sozialen Milieu wie die PKK die ihre, bekennt sich aber zum Kampf für Minderheitsrechte mit friedlichen Mitteln. Zugleich ist die HDP die drittstärkste Kraft im türkischen Parlament. In Diyarbakir ist sie gar die klare Mehrheitspartei.

Die linksgerichtete HDP weiss etwa die Hälfte der kurdischen Minderheit hinter sich. Die andere bleibt auf Distanz. Doch die kurdische Identität sei in den letzten Jahren in allen Lagern stärker geworden, sagt der Politexperte Vahap Coskun, der an der Universität Diyarbakir unterrichtet. Früher habe sich das kurdische Bewusstsein auf eine Gruppe von Politaktivisten konzentriert, viele unterstützten den bewaffneten Kampf, nun sei daraus ein breites gesellschaftliches Phänomen geworden, so Coskun.  

Die neue Generation drücke ihre kurdische Identität dabei auf verschiedenste Weise aus, sei es in der Musik, dem Kino, der Literatur, ja selbst im Fussball, sagt Vahap Coskun. Sie blicke auch über die Grenzen, beobachte die Entwicklungen in den kurdischen Gebieten in der Nachbarschaft, in Syrien, Irak, Iran, sehe sich in einem grösseren kurdischen Zusammenhang. Auch das habe das kurdische Selbstverständnis gestärkt.

Erdogan und seine Konkurrenten in Diyarbakir

Im Wahlkampf kommt der Staatspräsident persönlich nach Diyarbakir. Erdogan spricht ausführlich vom Kampf gegen den Terrorismus, der mit voller Härte weitergehen müsse. Er setzt weiter auf die nationalistische Karte.  

Erdogan-Plakate an der Autobahn in Diyarbakir.
Legende: Erdogan-Plakate an der Schnellstrasse in Diyarbakir. Keystone/EPA/SEDAT SUNA

Die grösste gewählte Institution in Diyarbakir, die noch existiert, ist die Handelskammer. Ihr Direktor ist Mehmet Kaya. Bei ihm laufen viele der Fäden zusammen, seit die Millionenstadt Diyarbakir zwangsverwaltet wird. Viele Organisationen aus der kurdischen Zivilgesellschaft kämen nun zur Handelskammer und bäten um Unterstützung, vom Sportverein bis zur Sprachschule. Dies, weil der Statthalter der Regierung ihnen die Subventionen gekürzt oder gestrichen habe, so Kaya.

Mann mit Bart vor zwei Flaggen und einem Signet an der Wand
Legende: Mehmet Kaya, Direktor der Handelskammer. SRF

Auch die CHP macht in Diyarbakir Wahlkampf. Die grösste Oppositionspartei der Türkei ging aus der ehemaligen kemalistischen Staatsmacht hervor. Nun hofft sie, bei den Wahlen aus der kurdischen Enttäuschung über die Ära Erdogan Kapital zu schlagen.

Handelskammer-Direktor Mehmet Kaya gibt ihr gute Chancen, mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu im kurdischen Südostanatolien viele Stimmen zu holen. Kilicdaroglu sendet Versöhnungssignale in Richtung kurdische Bevölkerung. Auch persönlich entspricht der Herausforderer Erdogans so gar nicht dem klassischen Profil der kemalistischen Eliten. Er gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an und ist selber in einem kurdisch geprägten Teil Anatoliens aufgewachsen.

Aber auch im Oppositionsbündnis um die CHP sind türkisch-nationalistische Kräfte stark und bleibt der Argwohn gegenüber separatistischen Bestrebungen im kurdischen Südosten gross. Mehmet Kaya nimmt es zur Kenntnis. Doch allen Spannungen zugrunde liege der Streit um die volle Anerkennung kurdischer Minderheitsrechte, sagt er.  

Seit hundert Jahren ist der Streit ungelöst. Mit Waffengewalt wird ihm nicht beizukommen sein.

International, 06.05.2023, 06:33 Uhr

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