Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte Selma Jahić in Bosnien, in Srebrenica. Jener Stadt, die zum Synonym werden sollte für das schrecklichste Verbrechen, das in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg begangen wurde. Jahić war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt.
Über 8300 Bosniakinnen und Bosniaken wurden im Juli 1995 innerhalb weniger Tage ermordet. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien erklärte das Massaker in mehreren Urteilen zum Völkermord. Chefanklägerin in den Prozessen war die Tessinerin Carla Del Ponte.
SRF: Selma Jahić, wie wichtig waren diese Urteile für Sie und Ihre Familie?
Selma Jahić: Auf jeden Fall wichtig, damit auf irgendeine Art und Weise Gerechtigkeit da ist und es auch international wahrgenommen wird. Manche Mittäter leben bis heute auf freiem Fuss. Aber wenigstens sitzen die wichtigsten Akteure hinter Gittern.
Einer der ermordeten Männer war Ihr Grossvater. Sie, Ihre Mutter und Ihr Bruder verliessen Srebrenica in ein Flüchtlingslager; Ihre Grosseltern blieben zurück – und Sie haben Ihren Grossvater nie mehr wiedergesehen?
Meiner Oma ging es nicht so gut wegen der Hitze, darum hat mein Opa vorgeschlagen, dass sie am Tag darauf nachkommen. Aber schon als wir Srebrenica verliessen, wurden die ersten Leute separiert. Vor uns war ein älteres Ehepaar und der Mann wurde von der Frau getrennt. Der Mann hat die Soldaten angebettelt, dass sie ihn mit der Frau mitgehen lassen, sie sei krank. Der Soldat hat knallhart gesagt: «Du findest sie wieder in der Drina» – es ist einer der wichtigsten Flüsse in Bosnien.
Am nächsten Tag hatten wir dann die Gewissheit, dass auch meine Grosseltern getrennt und alle Männer später umgebracht wurden.
Sie waren ja noch ein Kind damals. Welche Szenen haben sich bei Ihnen eingebrannt?
Als wir zu den Transportern gegangen sind, habe ich mich noch einmal umgedreht und die brennenden Häuser gesehen und die ganze Menschenmasse im Hintergrund. Das ist mein letztes Bild von Srebrenica, damit bin ich weggefahren.
Wir verlangen immer noch, dass man uns sagt, wo alle Massengräber sind, wo die restlichen Menschen begraben liegen.
Ihr Vater war ab dem Kriegsausbruch in Österreich, konnte Ihrer Familie nicht beistehen. Ihre Mutter hat sich um sie gekümmert – unter grosser Gefahr?
Wir waren damals extrem abgeschottet von der Aussenwelt, haben keine Nahrungsmittel bekommen. Wir waren darauf angewiesen, dass man irgendwo Essen auftreibt, auch wenn das hiess, dass man in verlassene Dörfer geht und schaut, ob man dort etwas findet. Meine Mutter hat sich jedes Mal von uns verabschiedet, weil sie in einen bewaffneten Hinterhalt geraten oder die Häuser vermint sein könnten. Sie war nie sicher, ob sie lebend zurückkommt.
Was fordern Sie heute in Bezug auf Srebrenica? Was muss geschehen an Aufarbeitung?
Es müsste überall als Genozid anerkannt werden. Die Täter müssen belangt werden. Und es müssen alle Opfer gefunden werden. Wir verlangen immer noch, dass man uns sagt, wo alle Massengräber sind, wo die restlichen Menschen begraben liegen. Damit die Mütter, die Familien endlich einen Schlussstrich ziehen und irgendwie weiterleben können.
Das Gespräch führte Barbara Lüthi.
Selma Jahić ist Gast in der vierten Folge der «Club»-Sommerserie «Krieg und Frieden», die am 9. August 2022 ausgestrahlt wird.