9. November 2019. Eine ganze Generation liegt zwischen heute und dem Fall der Berliner Mauer. Zeit genug, um Jahrzehnte der Teilung zu überwinden. Doch Ost und West sind noch da. Vielleicht mehr denn je. Es sind zwei Perspektiven auf die gleiche Geschichte, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten.
Zwei unterschiedliche Erzählungen
Hier die Erzählung vom maroden, heruntergewirtschafteten und moralisch unterlegenen sozialistischen Osten, der vom Westen errettet und in seiner Mitte aufgenommen wurde und sich bedankt mit Gejammer, Ostalgie oder Rechtsextremismus, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen.
Dort die Erzählung vom neoliberalen Westen, der einem Raubritter gleich über den Osten herfiel, sich gezielt alles unter den Nagel riss oder plattmachte und die neuen Bundesländer zur Kolonie degradierte. Ist der Kapitalismus zu stark, bist du zu schwach.
Beide Erzählungen scheinen – so zugespitzt – unglaubwürdig. Und sind doch verbreitet. Sie sind mit den Jahren nicht etwa harmloser geworden, haben sich nicht abgeschliffen oder eingemittet; sie wurden weitergegeben an eine Generation, die geboren wurde, als die Mauer schon nicht mehr stand.
Neues Selbstbewusstsein im Osten
Viele von ihnen erheben jetzt ihre Stimme. Durchbrechen alte Narrative, benennen reale Ungleichheiten und irreale Stereotype. Oder sie laufen Fackelträgern hinterher, lassen ihrem Rassismus und Menschenhass freien Lauf. Und sie machen ihr Kreuz bei der AfD.
In den neuen Bundesländern erreicht die AfD doppelt so hohe Stimmenanteile wie in den alten: ausser in Berlin wählt im Osten fast jeder vierte rechts aussen. Nur gut 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger im Osten halten die Demokratie für die beste Staatsform.
Die Wirtschaft im Osten hinkt hinterher, die Führungsjobs in allen Bereichen sind vorwiegend von Westdeutschen besetzt, Kapital und Privatvermögen sind im Osten geringer, die Überalterung stärker ausgeprägt und vor allem herrscht vielerorts ein Männerüberhang. Das tut keiner Gesellschaft gut.
Dabei hat die ostdeutsche Zivilgesellschaft enormes geschafft. Sie hat sich gegen eine Diktatur erhoben und selbst befreit. Sie hat einen extremen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umbruch überlebt und entdeckt gerade ein neues Ost-Selbstbewusstsein.
Aber sie ist damit weitgehend auf sich allein gestellt. Sanierte Innenstädte können den kollektiven Kater, der auf den anfänglichen Freudenrausch folgte, nicht überdecken. Und eine echte politische Vision für den Osten gibt es nicht. Geschweige denn eine politische Vision, die dem geeinten Deutschland gerecht werden würde.
Raum für Ernüchterung und Politikverdrossenheit
Die blutleere Regierung erzeugt ein Vakuum, das viel Raum lässt für Ernüchterung, Politikverdrossenheit, Rückzug ins Private und nicht zuletzt für Hass und Hetze. Die drängenden Fragen, auf die gerade das von Ost und West geprägte Deutschland glaubwürdige Antworten finden könnte, bleiben unbeantwortet.
Die Deutschen mögen sich die Feierlaune nicht wirklich verordnen lassen. Aber sie sprechen ehrlicher als je zuvor über Ost und West. Deutschlands bewegte Geschichte verleiht dem Land seinen ausgesprochenen Charakter. Es wäre schön, daraus eine neue Erzählung für die Zukunft zu machen – gemeinsam.
SRF 4 News, 12:00 Uhr