Die Tschechoslowakei ist Mitte November 1989 spät dran. Das ehemals sozialistische Bruderland Polen hat bereits eine demokratisch gewählte Regierung. Schon Monate zuvor hat der ungarische Aussenminister den Eisernen Vorhang durchschnitten. Am 9. November ist in Berlin die Mauer gefallen.
«Mit der Wahl Havels endete für mich die Revolution. Nun ging es darum, das Land und die Gesellschaft umzubauen, mit Havel an der Spitze.» Den Umbau der Tschechoslowakei nach der unblutigen, der samtenen Revolution, erlebt Monika Pajerova als Diplomatin in Frankreich. Aus der Ferne sieht sie, wie sich ihre Heimat zuerst der Nato und dann der Europäischen Union annähert.
Sie sieht auch, wie die Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei zerbricht, wie der rasante Umbau der Plan- in eine Marktwirtschaft wenige Tschechen sehr reich und zunächst viele arbeitslos macht.
Unser grösster Fehler war, dass wir gewöhnlichen Leuten das Gefühl gegeben haben, ihre Probleme würden weiterhin von oben gelöst werden.
Pajerova sieht, wie die Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren, weil sich die Politiker mehr für ihren Machterhalt interessieren als für die Bedürfnisse der Bürger. «Heute ist die tschechische Gesellschaft, was Politik angeht, von Fatalismus geprägt», sagt sie. Die meisten glauben, sie könnten sowieso nichts ändern. Oder wenn, dann könne nur ein starker Einzelner etwas bewegen.
Dieser Glaube an den starken Mann ist der Grund, wieso der Milliardär Andrej Babis vor zwei Jahren die Wahlen gewonnen hat und seither Tschechien regiert, obwohl er in verschiedene Korruptionsskandale verwickelt ist.
Selbstkritik von Pajerova
Pajerova unterrichtet aktuell an einer amerikanischen Universität in Prag. In ihren Vorlesungen geht es immer wieder um die samtene Revolution und die Jahre danach.
Für sie sind die Intellektuellen von 1989, Studentenführerinnen wie sie oder Dissidenten wie Vaclav Havel, mitschuldig am tschechischen Fatalismus: «Unser grösster Fehler war, dass wir gewöhnlichen Leuten das Gefühl gegeben haben, ihre Probleme würden weiterhin von oben gelöst werden.» Für viele sei es eine böse Überraschung gewesen, als sie realisierten hätten, dass sie selbst handeln müssten.
«Ich liebe sie. Die sind wie wir vor 30 Jahren»
In der Folge hätten viele der Politik enttäuscht den Rücken gekehrt, sich nur noch fürs persönliche wirtschaftliche Vorankommen interessiert. Allerdings: Gerade dieses Jahr sind in Prag so viele Menschen auf die Strasse gegangen wie seit 1989 nie mehr.
250’000 hat im Juni gegen Regierungschef Babis demonstriert. Über 100’000 werden am Wochenende erwartet. Alles Leute, die sich nicht damit abfinden wollen, dass der Regierungschef und Milliardär der grösste Subventionsempfänger des Landes ist.
Auch diese Demonstrationen organisiert eine kleine Gruppe von Studenten. «Ich liebe sie. Die sind wie wir vor 30 Jahren», sagt Pajerova. «Sie wollen diesen Fatalismus überwinden».
Tschechen nach wie vor autoritätsgläubig
Die heute 53-Jährige findet die aktuelle tschechische Regierung eine Zumutung, ihre Mitbürger findet sie teilweise noch immer unerträglich autoritätsgläubig.
Und doch, unzufrieden ist die Studentenführerin von 1989 mit der samtenen Revolution nicht: «Wenn ich vergleiche, was ich vor 30 Jahren erwartet habe und mir anschaue, wie wir in diesem Land heute leben, dann ist es nicht so schlecht.» Was auf deutsch auf Pajerovas Stofftasche steht, gelte halt auch für Revolutionen. «Du kannst alles machen. Aber nicht alles auf einmal».