Sie stehen morgens um 6 Uhr im Stadteil Küçüksu auf der asiatischen Seite Istanbuls: Afghanische Männer auf der Suche nach einem Tagesjob. Der bringt im besten Fall 170 bis 200 Lira, umgerechnet nicht einmal 20 Franken am Tag. Wohlgemerkt für neun Stunden als Bauarbeiter oder Gärtner – natürlich schwarz.
Es ist ein Heer afghanischer Migranten, das seit Tag und Jahr die Türkei bevölkert, schon vor der Machtübernahme der Taliban, ohne Ausweisdokumente und Aufenthaltserlaubnis – jederzeit abschiebbar. Wohin, fragt man sich heute, da Millionen von weiteren Afghaninnen und Afghanen lieber heute als morgen ihre Heimat verlassen wollen?
Im Fokus der Debatte steht ein neuer Flüchtlingspakt, den europäische Staaten jetzt schon vorbereiten, damit die Türkei erneut zum Bollwerk gegen einen Strom von Menschen wird, die ihr Heil eben dort in Europa suchen. Fast schon scheinen die Zeichen umgedreht, in diesem brandheissen türkischen Sommer.
Die Opposition bläst auf die noch vielen Brände, welche die türkische Mittelmeerküste in den letzten Wochen heimgesucht haben und kritisiert die Regierung, unfähig zu sein. Gleiches wird jetzt in der Afghanistan-Krise versucht und Ströme von afghanischen Flüchtlingen an die Grenzen der Türkei mit dem Iran werden skizziert. Noch aber bleiben sie aus.
All das mag vorzeitiges Wahlkampfgetöse sein, ein Versuch, Präsident Recep Tayyip Erdogan irgendwann aus dem Amt zu jagen. Gleichzeitig aber wird der soziale Neid in einer von der Wirtschaftskrise tief gezeichneten Gesellschaft befeuert. Erst am 12. August wütete ein Mob durch die Strassen von Ankara und verwüstete Geschäfte und Autos von Syrern. Dies nur, weil den Medien zufolge ein 18-jähriger Türke angeblich von einem Syrer erstochen wurde. Der Krieg zwischen Armen – in der Türkei wird er erbarmungslos angestachelt und geführt.
Der Flughafen Kabul könnte Gold wert sein
Die türkische Regierungsspitze hat nur noch einen Trumpf in der Hand, um das Blatt zu wenden. Das Angebot der Amerikaner, den Türken, die jetzt schon militärisch präsent sind, nach dem überhasteten Abzug die Sicherheit auf dem Internationalen Flughafen von Kabul zu übertragen. Dieses Angebot kann Gold wiegen – auch wenn eine Realisierung dieses Mandats noch in weiter Ferne steht.
Doch sollte es Präsident Erdogan schaffen, mit den neuen Herrschern in Kabul handelseinig zu werden, dann könnte künftig die Sicherung und geordnete Ausreise afghanischer Mitarbeiter der Koalitionsstreitkräfte und internationaler Organisationen gewährt werden. Die USA würden den Türken dafür sicher viel Geld bezahlen.
Im Gegenzug könnten die Türken die Schliessung der Grenzen zum Irak und Pakistan aushandeln. Das wäre auch im Interesse der Taliban, die so einen weiteren «Brain-Drain» verhindern könnten. Und die Türkei könnte den befürchteten afghanischen Flüchtlingsstrom Richtung Europa im Entstehen stoppen. Was immer das auch für die Afghaninnen und Afghanen im eigenen Land heisst, die Türkei und letztlich Europa wären vor weiteren sozialen und politischen Verwerfungen in ihrem Hoheitsgebiet verschont.
Die über eine halbe Million afghanischen Migranten in der Türkei würden mittelfristig wieder zurückgeschafft werden – auch wenn ihr Land zum kulturellen und sozialen Gefängnis wird. Die geografischen Nachbarn blieben von einer weiteren Flüchtlingswelle aus Afghanistan verschont.