Die Lage in Afghanistan sei sehr volatil, und die geopolitischen Auswirkungen liessen sich noch nicht abschätzen, stellte Aussenminister Ignazio Cassis am Mittwoch vor den Medien fest. Entsprechend besorgt sei der Bundesrat über die aktuelle Situation und die Unsicherheit bezüglich der neuen Regierung.
Die Zahl der Vertriebenen, die Sicherheit und Schutz suchten, nehme zu, sagte Cassis. Er rief dazu auf, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren, besonders auch in Bezug auf Minderheiten, Frauen und Mädchen.
Evakuierung von Schweizern und Ortskräften
Priorität habe für den Bundesrat zurzeit die Evakuierung von Menschen mit engem Bezug zur Schweiz. Dazu gehörten das Lokalpersonal im Deza-Kooperationsbüro in Kabul. Alle sechs Schweizer Mitarbeitenden des Büros seien bereits wieder in der Schweiz – evakuiert in einer US-Militärmaschine von Kabul nach Doha in Katar und von dort mit einer Linienmaschine in die Schweiz.
Bisher hätten sich zudem rund 30 Schweizer Staatsangehörige in Afghanistan gemeldet, die das Land verlassen wollten, darunter Mitarbeitende von IKRK, NGOs und anderen Organisationen. Zusammen mit den humanitär aufgenommenen 40 lokalen Angestellten und deren Familien sei so mit rund 280 Personen zu rechnen, die in nächster Zeit in die Schweiz zurückgeflogen werden sollen.
Eine Charter-Maschine wurde laut Cassis bereits für den heutigen Mittwoch angemietet. Diese könne aber zurzeit in Kabul nicht landen, da der Flugplatz noch militärischen Maschinen vorbehalten sei. «Die Lage kann sich aber je nach Entscheidung der befehlshabenden Amerikaner innert Stunden ändern», erklärte Cassis.
Zudem befänden sich mittlerweile Spezialkräfte der Schweizer Armee am Flughafen in Kabul, «um sich ein Bild der Lage zu verschaffen», wie der Aussenminister sagte.
Humanitäre Visa für 230 Afghaninnen und Afghanen
Aufgrund ihrer Tätigkeit seien die lokalen Angestellten des Deza-Kooperationsbüros in Kabul möglicherweise eine Bedrohung ausgesetzt und könnten als Kollaborateure verfolgt werden, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter zum heutigen Aufnahmeentscheid. Trotz anderslautender Ankündigungen der Taliban-Führung müsse die Schweiz davon ausgehen, dass diese Ortskräfte an Leib und Leben bedroht seien.
Die Schweiz werde ihnen deshalb im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht ein humanitäres Visum ausstellen, bis die Sicherheit in ihrer Heimat wieder gewährleistet sei. Das EJPD habe beschlossen, die Aufnahme der rund 230 Personen dem vom Bundesrat für das Jahr 2021 genehmigten Resettlement-Kontingent von 800 Personen anzurechnen.
Aufnahme grösserer Gruppen zurzeit nicht möglich
Keller-Sutter nahm zugleich Stellung zur lauter werdenden Forderung, grössere Personengruppen als Resettlement-Flüchtlinge in der Schweiz aufzunehmen. Dies sei allerdings allein aufgrund der instabilen Lage nicht möglich: «Das UNHCR hat bisher nicht einmal das Bedürfnis erheben können.»
Die Schweiz sei in ständigen Kontakt mit dem UNO-Flüchtlingshilfswerk, das die Umsiedlung Gefährdeter in sichere Drittstaaten koordiniere. Für Einreisen in die Schweiz müssten eingehende Sicherheitsbedingungen erfüllt sein, so Keller-Sutter.