Nach ihrer Machtübernahme haben die Taliban angekündigt, eine Regierung bilden zu wollen. Markus Kaim, Experte für Afghanistan bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin, traut ihnen zu, staatliche Dienstleistungen anzubieten. Auf dem Land funktioniere das bereits.
SRF News: Hat der Abzug der US-Truppen ein Vakuum hinterlassen?
Markus Kaim: Ja, aussenpolitisch, aber auch innenpolitisch. Afghanistan befindet sich in einer Phase der Konsolidierung und des Übergangs, in der viele Variablen erkennbar sind, die über das weitere Schicksal des Landes entscheiden werden. Aber Richtung und Dynamik, mit der sich das Land entwickeln wird, sind noch nicht richtig erkennbar. Von daher scheinen mir die Ausdrücke Vakuum und Ungewissheit momentan die besten Ausdrücke zu sein, um das zu beschreiben.
Welche Variablen sind denn schon erkennbar?
Eine Variable ist das militärische Übergewicht der Taliban. Sie haben sich in einer ohnehin komplexen innenpolitischen Lage mit vielen ethnischen Gruppierungen, vielen Milizen, als der dominante militärische Akteur erwiesen. Diese militärische Überlegenheit ist durch die Übergabe westlichen Kriegsmaterials noch gestiegen. Von daher ist ihre Machtstellung uneingeschränkt. Und damit werden sie auch der dominante politische Akteur sein.
Trauen Sie es den Taliban zu, einen Staat aufzubauen?
Nach all dem, was wir hören, funktioniert so etwas wie Staatlichkeit ja bereits. Es mag vielen westlichen Regierungen nicht gefallen, was vor allen Dingen in den ländlichen Provinzen Afghanistans passiert. Aber staatliche Dienstleistungen werden weiter uneingeschränkt angeboten. Das sind ja die ersten Fragen, die eine Bevölkerung an eine Regierung heranträgt.
Das tägliche Leben geht weiter und die Taliban konsolidieren ihre Macht.
Sie wollen wissen: Wie sieht es mit Rechtssicherheit aus? Wie sieht es aus mit der persönlichen und öffentlichen Sicherheit? Und da scheinen die Vorzeichen zumindest darauf hinzudeuten, dass die Taliban dazu in der Lage sind, das zu organisieren. Von daher beginnen wir mit diesem Wandel in Afghanistan jetzt eine Phase der Normalisierung, so merkwürdig der Ausdruck auch klingen mag. Das tägliche Leben geht weiter und die Taliban konsolidieren ihre Macht.
Die Taliban haben ja kaum Erfahrung in der Staatsführung. Kann das gutgehen?
Sie haben das Land ja fünf Jahre regiert, unter obskuren Umständen, in einer Form, die wir nicht anerkannt haben. Aber letztlich haben sie ja auch ihre Lehren daraus gezogen. Viele der Taliban sind mittlerweile mit westlichen politischen Systemen vertraut, haben ihre Erfahrungen gesammelt, und ich sehe keinen Anlass, nicht zu glauben, dass sie in der Lage sind, das System in ihrem Sinne – in Form eines islamischen Emirats – zu organisieren und zu führen.
Brauchen sie nicht auch Verbündete, um auf lange Sicht regieren zu können?
Ja, und die finden sie ja mittlerweile auch im Westen. Die USA haben die diplomatischen Beziehungen nicht abgebrochen und ihre Botschaft nur verlegt. Der deutsche Aussenminister hat angekündigt, er könne sich durchaus vorstellen, eine diplomatische Vertretung der Bundesrepublik in Kabul zu unterhalten. Da sehen wir also einen Normalisierungsprozess.
China und Russland machen deutlich, welche Interessen sie haben.
Und die andere Unterstützung kommt von den neuen regionalen Hegemonen China und Russland. Sie füllen das Vakuum, das die USA hinterlassen haben, und verfolgen einen sehr vorsichtigen, abwartenden Kurs der Annäherung gegenüber den Taliban. Sie machen aber doch deutlich, welche Interessen sie haben, und dass sie diese berücksichtigt sehen möchten.
Das Gespräch führte Nina Gygax.