Der Abzug der US-Truppen in der Nacht wurde von Taliban-Kämpfern in Kabul mit Schüssen in die Luft gefeiert. Ganz anders zumute ist es dem ehemaligen Regierungsangestellten Mohammed: «Wir sind frustriert und haben Angst. Wir wissen nicht, wie die Taliban mit uns umgehen werden.»
Gestern im Stadtzentrum habe ein Taliban einen Autofahrer erschossen, weil dieser an einem Kontrollposten nicht gestoppt habe, berichtet Mohammed. Er hielt sich deshalb in den letzten Wochen mit der Familie in seinem Haus versteckt.
Die Angst vor den Listen
Eigentlich standen sie auf einer Evakuationsliste und hätten ausgeflogen werden sollen. Doch der Anruf, an den Flughafen zu gehen, kam nicht. Mohammed befürchtet, dass die Taliban nun im Besitz dieser Listen sind: «Afghanistan ist kein Ort mehr für uns, es ist zu gefährlich», betont der frühere Regierungsmitarbeiter. Seine Frau arbeitete für die Frauenrechte auf dem Land.
Afghanistan ist kein Ort mehr für uns, es ist zu gefährlich.
Ob sie je ausreisen können, ist völlig unklar. Denn mit den US-Truppen verschwindet auch das Sicherheitsdispositiv am Flughafen, wo in den letzten Tagen Luftabwehrraketen und Drohnen der US-Armee Anschläge noch abgewehrt hatten.
Die Angst vor den Posts
Auch Abdullah konnte nicht ausreisen. Der Student und Blogger stand auf keiner Liste. Er habe fast alles unternommen, um ausgeflogen zu werden, doch passiert sei nichts: «Ich weiss nicht, wen genau sie aus dem Land bringen. Nur jene, die beim Militär waren oder für die Regierung arbeiteten – oder wirklich jene, die Schutz benötigen?»
Abdullah hat sich durch seine Posts im Internet exponiert und fürchtet, dass vieles, was er geschrieben hat, den Taliban nicht passt. Genau weiss er es nicht. Denn es gibt keine Regierung, und die Taliban haben noch keine Gesetze erlassen: «Ich lasse mir nun einen Bart wachsen. Ich weiss nicht, ob das bald Gesetz wird, aber ich muss mich darauf einstellen».
Ich lasse mir nun einen Bart wachsen. Ich weiss nicht, ob das bald Gesetz wird.
Die Angst vor Kriminellen und Taliban
Die Ungewissheit im Machtvakuum zwischen der alten Regierung von Ashraf Ghani und dem, was kommen soll, versuchen andere zu nutzen. Auch Abdullah geht nur noch für das Nötigste raus: «Die bewaffneten Männer auf der Strasse tragen normale afghanische Kleidung, keine Uniform.»
«Jeder mit einer Waffe könnte ein Taliban sein – oder ein Krimineller, der sich als Taliban ausgibt», sagt Abdullah. Denn gleich nach der Machtübernahme liessen die Taliban in Kabul tausende von Gefangenen frei. Diese ziehen nun durch die Strassen und machen, was ihnen passt.
Jeder mit einer Waffe könnte ein Taliban sein – oder ein Krimineller, der sich als Taliban ausgibt.
Es gilt das Recht des Stärkeren, und das sind momentan jene mit der Waffe in der Hand. Abdullah, Mohammed und viele andere in Kabul fühlen sich diesen Kriminellen, ob Taliban oder nicht, ausgeliefert. Sinnbildlich für die Lage sei der blutige Terroranschlag von letzter Woche am Flughafen gewesen, sagt Mohammed: «Als ich die Explosion sah, dachte ich mir: Der Krieg ist noch nicht vorbei – das ist die Botschaft an die Menschen.»
Verraten
Die Szenen am Flughafen in den letzten Wochen stünden symbolisch für den US-Einsatz in Afghanistan, so Mohammed: «Die USA hatten 2001 keinen Plan und sie haben es auch heute nicht. Sie kamen komplett unvorbereitet und überstürzt ins Land und genauso verlassen sie es 20 Jahre später wieder».
Sie kamen komplett unvorbereitet und überstürzt ins Land und genauso verlassen sie es 20 Jahre später wieder.
Ein geordneter Abzug wäre besser gewesen, sagen beide: Zuerst hätten eine neue Verfassung und neue Gesetze ausgehandelt werden müssen. Nun aber seien sie schutzlos dem Willen der Taliban ausgeliefert. Mohammed und Abdullah, die sich für ein demokratisches und freies Afghanistan nach westlichen Vorbild einsetzten, fühlen sich genau von diesem Westen verraten.