Nach 20 Jahren haben die letzten US-Truppen Afghanistan verlassen. Die Hoffnungslosigkeit vor der ungewissen Zukunft unter einem neuen Taliban-Regime sei riesig, sagt Thomas Ruttig vom «Afghanistan Analysts Network».
SRF News: Die westlichen Soldaten sind weg. Was für ein Land hinterlassen sie?
Thomas Ruttig: Sie hinterlassen ein Land mit vielen hoffnungslosen Menschen. Diese hatten ihre Hoffnungen auf den demokratischen Westen gesetzt, ein besseres Afghanistan aufzubauen, in dem sie frei leben können. Doch der Westen ist grandios gescheitert. Für viele dieser Menschen gibt es jetzt keine Hoffnung mehr. Sie sehen einer Neuauflage des Taliban-Regimes entgegen – ohne Alternative.
Wie gross ist die Enttäuschung über den Westen?
Die Enttäuschung ist sehr gross. Das war in Afghanistan bei vielen zu spüren, die sich mit dem Westen eingelassen haben. Auch die Enttäuschung, dass von Anfang an die falschen Verbündeten gesucht wurden. Dass man nicht versuchte, eine offenere demokratische Gesellschaft aufzubauen, sondern sich mit den Warlords zusammentat. Also mit jenen, die unter den Augen des Westens ihren Drogenhandel weiterbetrieben und damit das demokratische Experiment gleich in den Anfangsstunden abwürgten.
Haben westlichen Werte wie Demokratie als Vorbild ausgedient?
Das glaube ich nicht. Oft höre ich Afghaninnen und Afghanen sagen, die Demokratie sei bei ihnen nicht generell gescheitert, sondern die vom Westen versuchte Umsetzung. Das war keine Demokratie und konnte keine Demokratie sein, weil ihre Stimmen bei Wahlen nur formal waren.
Die wichtigen Entscheidungen wurden letztlich hinter den Kulissen zwischen den Warlords und den USA getroffen.
Und man zum Schluss bei den vielen Manipulationen gar nicht mehr wusste, ob die Stimmen überhaupt gezählt wurden. Die wichtigen Entscheidungen wurden letztlich hinter den Kulissen zwischen den Warlords und den USA getroffen. Und selbst der am Anfang noch relativ demokratisch gewählte Präsident Hamid Karsai hatte überhaupt nichts zu sagen.
Wäre eine Demokratie noch immer ein Bedürfnis der afghanischen Bevölkerung?
Eine Demokratie in afghanischen Farben. So, wie sie es sich aus ihrer Gesellschaft auf einer lokalen Ebene gewohnt sind, mitreden zu können – in den Räten und Jirgas. Nur sind die Aussichten dafür sehr düster. Die Taliban haben einer Demokratie nach dem Muster «Ein Mensch, eine Stimme» eindeutig eine Absage erteilt. Sie fangen bereits an, Freiheitsrechte, die auch im Afghanistan der letzten 20 Jahre nur ansatzweise existierten, weiter abzubauen.
Es gibt in der jungen Generation viele neue Islamisten.
Gibt es auch Menschen, die den Abzug der fremden Truppen als Befreiung empfinden?
Es gibt sehr viele zwiegespaltene Menschen. Zum einen sahen sie, dass die Anwesenheit westlicher Truppen vielleicht zu einem Friedensabkommen und einer etwas breiteren als nur einer Taliban-Regierung hätte führen können. Zum anderen erlebten sie immer wieder, wie mit Drohnenangriffen auch Unschuldige getötet und viele afghanische Gemeinden den Taliban sozusagen in die Arme getrieben wurden. Die Enttäuschung ist sehr gross.
Werden sich nun vermehrt Junge den Islamisten zuwenden, nachdem der Westen gescheitert ist?
Es gibt viele junge Menschen, die sich den Taliban zugewendet haben. Es gab immer wieder auch Berichte, dass viele Studenten abends weggingen und den Taliban halfen. Es gibt zudem in der jungen Generation viele neue Islamisten, die auch den Taliban kritisch gegenüberstehen. Und es gibt natürlich auch jene, die fortschrittlich pro-demokratisch sind, aber sie werden sich jetzt kaum noch äussern können.
Das Gespräch führte Sandro Della Torre.