Hilfswerke in Afghanistan sind seit der Machtübernahme der Taliban mit täglichen Herausforderungen konfrontiert. So werden Häuser kontrolliert oder Mitarbeiter bedroht. Michael Kunz, Präsident der «Afghanistanhilfe», beschreibt die Lage vor Ort.
SRF News: Wie funktioniert Ihr Hilfswerk unter der Talibanregierung?
Michael Kunz: Im Bereich Gesundheit haben die Taliban versichert, dass es zu keinen Änderungen kommen wird. Möglicherweise dürfen Patientinnen nur noch von weiblichem Personal behandelt werden. Doch ich bin überzeugt, dass auch Frauen weiter als Gesundheitspersonal arbeiten dürfen.
Im Bildungsbereich gilt die Regel, dass Mädchen nur noch bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen dürfen. Doch dies wird nicht in allen Provinzen gleich umgesetzt: In Zentralafghanistan, wo sich die ethnische Minderheit Hazara befindet, wird das Schulverbot strikt umgesetzt. Wohingegen mir Projektpartner für Schulen im Paschtunen-Gebiet bestätigt haben, dass die Mädchen dort zurzeit die Schule bis zum obligatorischen 9. Schuljahr besuchen dürfen.
Sobald die Talibanregierung steht, gehe ich davon aus, dass Mädchen die Schule bis zur 9. oder eventuell sogar bis zur 12. Klasse besuchen dürfen, sofern ein getrennter Schulunterricht von Jungen gewährleistet ist.
Ist die Situation vor Ort tatsächlich so schlimm, wie es bei uns im Westen ankommt?
Das ist sehr individuell. Angehörige der Hazara werden stark diskriminiert von den Taliban. Dies betrifft unter anderem auch Mitarbeiter der Hazara von unseren lokalen Partnerorganisationen. Da gibt es Vorfälle, Drohungen und Einladungen von Mitarbeitern, die sich bei den Taliban melden müssen.
Die einen gehen das Risiko ein und werden bei den Taliban vorstellig, andere flüchten aus Angst. Die Angst ist gross, auch aus der Erfahrung, was ihnen bei der letzten Regierungsherrschaft der Taliban widerfahren ist.
Kürzlich kursierten Meldungen, dass Mädchen ab zwölf Jahren entführt und versklavt werden. Da wir diese nicht verifizieren konnten, versteckten wir alle Mädchen ab diesem Alter aus unseren Waisenhäusern in Privathaushalte.
Wir haben zwar Schutzbriefe als Zusicherung der Taliban erhalten, dass unserem Personal nichts passieren wird. Trotzdem passieren schlimme Dinge, sodass wir uns nicht darauf verlassen können. Kürzlich kursierten Meldungen, dass Mädchen ab zwölf Jahren entführt und versklavt werden. Da wir diese nicht verifizieren konnten, versteckten wir alle Mädchen ab diesem Alter aus unseren Waisenhäusern in Privathaushalte.
Was ist das Problem für die Taliban bei den Waisenhäusern?
Der erste Vorwurf der Taliban war, dass wir missionieren würden. Dies konnte schnell widerlegt werden. Als Nächstes waren sie nicht einverstanden, dass wir mit den Mädchen anders umgehen, als es ihre Bräuche vorsehen. Bei uns dürfen die Waisenkinder viel Sport betreiben, was für die Mädchen verboten ist. Wir unterstützen die Kinder mit zusätzlichen Bildungsangeboten, damit sie einen Vorsprung gegenüber den Kindern mit Eltern haben, da sie ab dem 18. Lebensjahr für sich selbst sorgen müssen.
Wir erziehen besonders die Mädchen als selbstbewusste Individuen. Das passt den Taliban grundsätzlich nicht.
Wir erziehen besonders die Mädchen als selbstbewusste Individuen. Das sind tolle Mädchen mit grossen Träumen. Das passt den Taliban grundsätzlich nicht, da wir die Mädchen in ihren Augen «verwestlichen». Auch hier vermute ich, dass es auch damit zu tun hat, dass die Mädchen mehrheitlich aus der Hazara-Ethnie stammen.
Was ist momentan die grösste Herausforderung für das Hilfswerk?
In der Zusammenarbeit der Partnerorganisationen mit der Regierung gibt es neu grosse Unterschiede. Früher sassen studierte Persönlichkeiten in den Ministerien. Heute besetzen Männer diese Posten, die oft keine Ahnung haben und womöglich nie zur Schule gegangen sind. Die sagen unseren Mitarbeitern: «Lern zuerst Paschtu, damit du mich verstehst.» Mit solchen Menschen zusammenzuarbeiten, ist schwierig. Trotzdem ist die Kommunikation mit der Talibanregierung aus meiner Sicht der einzige Weg, damit wir unsere Projekte in dieser Form durchführen können.
Das Gespräch führte Saya Bausch.